Ein kurzer Sommer¶
Donnerstag, 25. September 2025
Hallo Freunde,
am 18. November werde ich für zwei Wochen nach Eupen kommen, zum ersten Mal seit zwei Jahren. En attendant erzähle ich euch noch mal wieder, wie es uns geht, immerhin ist seit dem letzten Rundbrief ein ganzer Sommer vergangen.
Kurzfassung: es geht uns gut. Ly genießt den Altweibersommer in Vigala, Mari das Studentenleben in Tartu, Iiris das Schüler- und Musikantenleben in Tallinn, während ich mich mit Lino amüsiere.
Ich suche weiterhin jemanden, der sich mit Lino und mir amüsieren will. Bitte lest und verteilt vielleicht mal folgenden Aufruf: Suche Mitarbeiter in Ostbelgien.
Unser Sommer hier in Estland war kurz, nur zwei Wochen lang konnte ich in Vigala schwimmen gehen. Aber die habe ich immerhin ausgenutzt und dabei erfreut festgestellt, dass meine Plastikhüfte mich nicht am Schwimmen hindert. Ja, stellt euch vor, ich hatte mir bisher noch nicht die Zeit genommen, das auszuprobieren.
Seit Anfang September leben wir gewissermaßen getrennt von Tisch und Bett: Ly in Vigala, weil sie dort mit Krücken wenigstens im Garten spazieren kann, Iiris und ich in Tallinn, weil Iiris ja wieder zur Schule muss. Zur Zeit liest Iiris Wahrheit und Recht in einem Exemplar, das 1947 gedruckt wurde und dessen Seiten noch nicht auseinander geschnitten waren, es hat also fast 60 Jahre lang auf seinen ersten Leser warten müssen.
Man könnte es geradezu ungerecht nennen, wie gut es uns geht. Zum Beispiel haben wir im August das von meinen Eltern und einer Kusine meines Vaters geerbte Geld in eine Mietwohnung in Tallinn investiert. Wir besitzen jetzt sage und schreibe sechs Immobilien. Wir hatten auch erwägt, mein Geld nicht in Estland sondern in Belgien zu investieren, denn wer weiß schon, ob ein friedliches Leben in Estland auch in zehn Jahren noch möglich sein wird. Letzten Endes waren wir uns aber alle vier einig, dass wir auf langfristigen Frieden im Osten Europas pokern.
Wie kann man überhaupt glücklich sein angesichts des Leids und der Ungerechtigkeit in der Welt? Wer logisch nachdenkt, kommt früher oder später zu dem Schluss, dass das Leben sinnlos ist. Depression ist die logische Reaktion eines gesunden Geistes auf eine kranke Gesellschaft, schreibt Erich Fromm in The Sane Society (aus dem Gedächtnis zitiert).
Die einzige logisch vertretbare Ausrede aus der Depression ist das Axiom, dass der Tod möglicherweise gar nicht das Ende des Lebens ist, sondern dass unser Leben hier vergleichbar ist mit dem Leben eines Fötus im Mutterleib, und dass es eine unsichtbare Welt außerhalb der sichtbaren Welt gibt, in die wir durch den von uns so genannten Tod „geboren“ werden. Dieses Axiom ist vollkommen unbeweisbar, aber es könnte rein theoretisch wahr sein. Ich werde es nie wissen, aber ich kann so tun als ob. Dieses Axiom ist für mich greifbar formuliert in der Bibel (und ob es auch in anderen heiligen Schriften steht, weiß ich nicht, darüber mögen sich die Experten streiten).
Deshalb ist das einzig Sinnvolle, was du im Leben tun kannst, Gott anzubeten, zu verherrlichen, zu kultivieren, kurz gesagt: Gott zu loben. Das bedeutet wohlgemerkt nicht unbedingt, fromm zur Kirche gehen. Es kann sogar das Gegenteil bedeuten, Jesus hat die damalige Kirche so sehr kritisiert, dass die ihn umgebracht haben. Gott zu loben bedeutet, dass du deine Talente blühen lässt. Wie eine Lampe, die man ja auch nicht unter einen Topf stellt sondern auf einen Leuchter, „damit sie allen im Haus leuchte“. Ob dir das gelingt, also ob du sichtbaren Erfolg dabei hast, hängt gar nicht so sehr von dir ab, sondern vielmehr von den Umständen deines Lebens. Also selbst wenn du findest, dein ganzes Leben verpfuscht zu haben, besteht die Hoffnung, dass Gott am Ende zu dir sagt „Och komm, sichtbarer Erfolg zählt doch bei mir gar nicht, ich schaue auf dein Herz“. Johannes Hartl erklärt das in Niederbayrisch und ausführlicher als ich, hör es dir vielleicht mal an: https://www.youtube.com/watch?v=wtHs4OE2kGg
Aha, selig, die reinen Herzens sind. Aber was ist ein reines Herz und wie kommt man dazu? Ich dachte zum Beispiel durch Aufrichtigkeit. Ich dachte, dass das eine klare Regel sei. Haha, was man mit über 50 nicht noch alles lernen kann! Unter Aufrichtigkeit verstehe ich, dass ich meinem Mitmenschen nichts vormache und ihm falls nötig auch Dinge sage, die ihm potentiell missfallen. „Du lässt dich ausnutzen“ oder „Du solltest deine Küche häufiger aufräumen“ sind zwei Beispiele aus meinem Leben der vergangenen Monate. Klar ist diese Regel eigentlich überhaupt nicht. Zum Beispiel ist es ein Riesenunterschied, ob ich mit dem Betreffenden live an einem Tisch sitze oder ob ich ihm eine Email schreibe. Wenn der Andere nicht wirklich vor mir sitzt, sind gewisse soziale Schutzmechanismen deaktiviert, die mich davon abhalten, ihm seelische Wunden zuzufügen. Jesus gibt uns ja viele Tipps um glücklich zu werden, einer davon lautet „Richtet nicht“. Erst mit zunehmendem Alter merke ich langsam, wie oft ich doch dagegen verstoße. Schon in diesem Absatz gleich zweimal. Wer bin ich denn, dass ich zu richten hätte, ob mein Freund sich ausnutzen lässt oder seine Küche oft genug aufräumt?
Okay, andere in Schubladen zu stecken will ich mir noch abgewöhnen, aber es gibt Situationen, in denen man nicht daran vorbei kommt, zu urteilen. Manche Dinge sind nun mal entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch, und man kann da nicht zwei Herren dienen. Der Unterschied zwischen den beiden ist manchmal schwer zu erkennen, was gelegentlich zu Konflikten führt. Zum Beispiel wenn zwei Regierungen finden, Anspruch auf ein bestimmtes Territorium zu haben, und sich verpflichtet fühlen, die jeweils andere in ihre Grenzen zu verweisen. Ich bin froh, dass ich solche Fälle nicht zu beurteilen habe. Ich verstehe nicht einmal, weshalb die Menschheit im Jahre 2025 überhaupt noch Panzer, Bomber, Minen und Raketen produziert.
Mehr als Kriege und Kaiser betrifft mich zur Zeit wieder eine alte Wortschatzfrage, im August habe ich dazu einen Blogeintrag geschrieben: Dankbar sein für Störungen.
So, jetzt höre ich aber auf, das muss reichen als Bild aus unserem Leben. Bitte betet für uns, dass wir gesund und friedlich miteinander leben und auch andere Menschen von unserem Glück profitieren lassen.
Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.