Von Katastrophen und Freuden

Hallo Freunde,

in dieser vorweihnachtlichen Wartezeit versuche ich nochmal zu erzählen, wie es mir geht.

Gesundheitlich geht es mir gut. Am meisten stört mich, dass ich seit der Hüftoperation noch nicht wieder im Schneidersitz auf dem Boden sitzen kann. Aber ich bringe schon wieder 67 Kg auf die Waage und gewöhne mich immer mehr an meine diversen Behinderungen. Heute habe ich mir zum Beispiel Pfannenfritten gemacht. Diese Methode habe ich entwickelt seit die Portionen im Restaurant zu groß für mich sind. Ich nehme eine mittelgroße Kartoffel, schneide sie in Stäbchen und brate diese in Öl auf der Pfanne. Das reicht schon, um mich glücklich zu machen.

Ly ist gesundheitlich schlimmer dran als ich. Das habe ich euch aus Gründen des Datenschutzes bisher noch nicht erzählt. Sie leidet schon seit über einem Jahr an einer Arthritis, die die Ärzte ihr nicht erklären können. Ihr Homöopath dagegen hat schon im Januar per Bioresonanz diagnostiziert, dass es sich um eine Infektion mit dem Cytomegalievirus handelt. Dank der homöopatischen Mittel ist immerhin die Schwellung an den Hand- und Fingergelenken zurückgegangen. Aber die Fußgelenke sind noch problematisch. Sie geht wie eine alte Frau und verlässt die Wohnung nicht ohne Krücke. Im Herbst konnte sie trotzdem noch mit dem Bus nach Vigala fahren, um Äpfel zu trocknen und die Ruhe zu genießen. Aber vor zwei Wochen hatte sie einen Schub und ist seitdem nicht mehr aus der Wohnung gegangen. Wir hoffen natürlich, dass das bald vorbei ist und völlig ausheilt. Auch Sharif (mein Programmierer in Bangladesh) ist schlimmer dran als ich, er leidet an einer Depression und ist jetzt deswegen in Behandlung. Wir hoffen, dass er im Januar wieder einsatzbereit ist.

Mari fühlt sich wohl als Studentin in Tartu. Schon im März schrieb sie extra für euch folgenden Artikel (sorry für die verspätete Veröffentlichung): Mari: Mein erstes Semester in Tartu. Eigentlich wollte sie im April 2025 für ein halbes Jahr mit Erasmus nach Berlin ziehen, aber vor einigen Wochen erfuhr sie, dass ihre Bewerbung abgelehnt worden ist. Kunsthochschulen sind also scheinbar recht beliebt.

Iiris hat zur Zeit viele Verpflichtungen mit der Posaune, weil im Dezember immer so viele Konzerte sind. Deshalb erleben wir sie zu Hause meistens im Ruhezustand in ihrem Bett, mit ihrem Telefon in der Hand. Letzteres macht mir schon Sorgen. Immerhin ist „Hirnfäule“ (brain rot) zum englischen Wort des Jahres gewählt worden und der Guardian (dem ich schon allein wegen seines Geschäftsmodells zu vertrauen trendiere) meint The evidence is getting harder to ignore. Ein Professor der Ecole Normale Supérieure de Paris dagegen bezeichnet zumindest die Theorie vom sinkenden IQ als Panikmache: Declining global IQ: reality or moral panic?.

Das estnische Unterrichtsministerium plant, die Berufsschule von Vigala zu schließen! Das wäre eine Katastrophe für das ganze Dorf und die ohnehin durch Landflucht gebeutelte Gegend [1]. Auch Lys und mein Plan, in einigen Jahren aus dem „Exil“ (Tallinn) wieder in unsere „Heimat“ (Vigala) zu ziehen, ist dadurch gefährdet. Zum Beispiel kann ich mir kaum vorstellen, dass das einzige Lebensmittelgeschäft im Umkreis von zehn Kilometern noch lange überlebt, wenn die Berufsschule verschwindet. Es besteht scheinbar noch Hoffnung. Immerhin 3971 Unterschriften haben sie gesammelt, um gegen die Schließung zu protestieren. Falls das gelingt, wird es allerdings nicht mein Verdienst gewesen sein, denn abgesehen von meiner Unterschrift habe ich nicht mitgeholfen.

Sowieso denke ich in letzter Zeit öfter als früher „Och macht doch was ihr wollt“. Zum Beispiel als die Amerikaner den Herrn Trump wiedergewählt hatten (siehe Wir sind vom Idiotenclub). Oder als Ly noch ein drittes Sofa für unsere ohnehin überfüllte Stadtwohnung kaufte. Ich klinke mich dann aus, auf mich hört ja eh keiner.

Ja, ich bin ein nutzloser alter weißer Mann geworden. Ich sehe das auch an kleinen Alltagserlebnissen. Neulich, als ich auf den Bus wartete, hätte ich beinahe den Bus Nr 45 weiterfahren lassen, weil ich die Nummer als „nicht für mich“ registriert hatte. Dabei sind 36 und 45 die beiden Linien, die an unserer Bushaltestelle vorbei kommen. Oder ich drücke auf den falschen Knopf unseres elektrischen Herdes und wundere mich nach einigen Minuten, dass die Milch für meinen Kakau nicht warm wird, während die leere Pfanne auf der Platte daneben zu knistern begonnen hat. Und vor ein paar Tagen bekam ich den Schraubdeckel einer Burke [2] nicht auf und suchte nach einem Messer, um den Deckel mit Gewalt zu öffnen, da trat Iiris hinzu und meinte „Lass mich mal“, und mit einem kurzen Griff hatte sie das Glas geöffnet. Ich finde es schon etwas peinlich, dass ich mit 56 Jahren von meiner Tochter an Körperkraft übertroffen werde.

Versteht mich nicht falsch. Den nutzlosen alten weißen Mann meine ich keineswegs abwertend. Dass ich alt werde, habe ich mit allen anderen Menschen gemeinsam, Hautfarbe und Geschlecht kann man sich nicht aussuchen, und über nutzlose Arbeit schrieb ich neulich einen ganzen Blogeintrag. Und als ich noch bei den Pfadfindern war, las ich mal in einem pädagogischen Lehrbuch den Satz „Das eigentliche Ziel eines guten Pfadfinderleiters besteht darin, sich nutzlos zu machen.“

Ganz nutzlos bin ich allerdings noch nicht. Zum Beispiel für Lino werde ich weiterhin gebraucht. Genauer gesagt bräuchte es sogar mindestens drei Lucs, um Lino angemessen und nachhaltig zu warten und weiterzuentwickeln. Deshalb erinnere ich euch daran: bitte betet mit mir, dass sich Menschen finden, die eine Trägerorganisation für Lino und ähnliche freie Softwareprodukte aufbauen wollen. Sorry falls ich mich wiederhole, aber das scheint mir wichtig, weil ich sehe, dass die Menschheit bezüglich Softwarenutzung in einer katastrophalen Zwickmühle steckt. Wir sind auf dem Weg in eine neue Form der Sklaverei, deren Ausmaß man sich bisher nicht vorstellen kann. Sowohl Privatunternehmen als auch öffentliche Verwaltungen vertrauen lebenswichtige Arbeitsprozesse und Daten Konzernen an, deren erklärtes Ziel nichts als die Bereicherung ihrer Aktionäre ist. Unsere Entscheidungsträger sind verwirrt und kaufen Katzen im Sack, weil sie keine andere Wahl haben. Trotz solch katastrophaler Aussichten verliere ich den Mut nicht. Ein offensichtlicher Grund zur Hoffnung ist, dass ich mich ja vielleicht irre. Viele Leute sehen das Problem nicht bzw. finden es nicht so schlimm. Es kann also durchaus sein, dass meine Sorge unberechtigt ist. Darüber werden wir frühestens in ein paarhundert Jahren urteilen, wenn wir gemütlich im Himmel bei einem Gläschen zusammensitzen.

Solche politisch-philosophischen Erwägungen sind gar nicht der eigentliche Grund dafür, dass ich Lino mache. Der eigentliche Grund ist, dass Lino mir täglich Freude gibt. Heute Morgen habe ich einen Bug verstanden und behoben, nach dem ich seit Monaten gesucht hatte. Gestern habe ich mit Hannes einen neuen Lino aus der Taufe gehoben, der voraussichtlich noch dieses Jahr in Produktion gehen wird. Vorgestern habe ich endlich Resultate liefern können für ein Projekt, an dem ich mehrere Mannwochen gearbeitet hatte. Und so geht das täglich. Weitere Geschichten aus dem Geschäftsleben eines Ostbelgiers im Ausland erzähle ich in meinem letzten Rundbrief an Kunden.

Falls wir in den kommenden Wochen nichts mehr voneinander hören, wünschen wir euch eine gesegnete Adventszeit, frohe Weihnacht und einen guten Rutsch ins nächste Jahr.

Luc mit Ly, Mari und Iiris

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.

Fußnoten