Mittwoch, 16. Oktober 2024

Ich bin offenbar noch immer in einer Art geistigem Schockzustand. Wohlgemerkt ein heilsamer Schock. Aber eben doch ein Schock und insofern lähmend. Gestern habe ich noch mal wieder gesehen, wie nutzlos meine Arbeit der letzten Jahre für die Kirche war. Die Lawine, die da ins Rollen kam, ist scheinbar noch nicht zu Ende. Ich vermute, dass ich gerade einen waschechten Burnout durchlebe, der aber glücklicherweise „nur“ meine ehrenamtliche Arbeit betrifft und nicht die Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdiene.

Mein gestriger Tag begann damit, dass ich doch tatsächlich fast zwei Stunden lang an einem kleinen Text in meinem estnischen Blog geschrieben habe, mit dem ich die Besucher unserer wöchentlichen Taizé-Gebete in der Karlskirche ermutigen möchte, doch aus den Kirchenbänken raus zu kommen und sich „zu uns“ auf den Boden vor dem Altarraum zu setzen. In Estland ist Auf-dem-Boden-Sitzen für viele Menschen etwas Abartiges, etwas ganz und gar Undenkbares. So what. Aber wie komme ich Tuppes auf die Idee, dass die Leute das doch wenigstens mal probieren sollten?! Und wieso schreibe ich noch immer „unsere“ Gebete? Wenn ich irgendeine Verantwortung trüge, dann wäre das verständlich, aber (zum Glück) leitet Annely diese Gebete und ich nehme lediglich momentan of teil, weil sie mir zeitlich passen und weil ich dort singen darf. Annely ist äußerst vorsichtig ist mit allem, was die Leute abschrecken könnte, und wer Estnisch kann und meinen Blogeintrag liest (Põrandal istumisest), der kann wahrscheinlich bestätigen, dass dieser Text aufdringlich ist und die Zuhörer emotional ansprechen will. Also dieser Text wird wahrscheinlich nie in der Karlskirche benutzt werden. Wohlweislich habe ich ihn lediglich in meinem estnischen Blog veröffentlicht, wo ihn kaum jemand lesen wird.

Zwei Stunden Computerzeit ohne messbaren Nutzen. Aber das ist nicht alles. Ich hatte gerade mal 40 Minuten für mein momentanes Hauptprojekt Lino Prima programmiert, als Annely anrief. Ich war nicht verpflichtet abzuheben, aber ich tat es, denn sie hatte mir schon zwei Stunden zuvor zwei Kurznachrichten geschickt, die mich beschäftigten.

Die erste Kurznachricht hatte gelautet „Vorschläge zum Gebetsablauf bitte im Team-Chat, nicht in der großen Gruppe“. Ich hatte am Montagabend in der Tat mal wieder etwas Dummes in der großen Gruppe geschrieben, was eine Reaktion ausgelöst hatte, auf die ich dann wieder reagiert hatte. Die große Gruppe ist eine Messenger-Gruppe mit 49 Mitgliedern. Nach dem Gebet hatte ich dort geschrieben „Heute war der nächste Rekord: 7 Sprachen waren zusammen: et fi ua de es en fr“. Diesen Satz fand Annely super und möchte gerne, dass ich solche Sätze auch in Zukunft schreibe. Dadurch kriegen diejenigen, die nicht kommen konnten, eine kleine Ahnung von dem, was sie verpasst haben. Ich fand es jedenfalls echt beeindruckend, dass da sieben verschiedene Muttersprachen vertraten waren. Diesbezüglich sind Annely und ich uns einig: wir ermutigen ausländische Gebetsteilnehmer seit Jahren, dass sie den Bibeltext in ihrer Muttersprache vorlesen. Wer schon mal eine Woche in Taizé war, der kennt das wahrscheinlich: wenn man einen Text in sieben verschiedenen Sprachen hört, von denen man mindestens die Hälfte noch nicht einmal versteht, dann wird einem bewusst, wie komplex die Wirklichkeit doch ist. Oder religiös formuliert, wie groß Gott doch ist. Also allein die Tatsache, dass am Montag in der Karlskirche sieben verschiedene Menschensprachen erklangen, ist ein Lob Gottes.

Bis dahin alles gut. Aber dummerweise hatte ich hinter meinem ersten Satz noch einen zweiten geschrieben: „Ich hoffe, dass das nicht so weitergeht“. In der Woche zuvor hatten wir nämlich mit sechs Spachen ebenfalls einen Rekord gebrochen. Wenn das so weiterginge, so dachte ich mir in meiner Funktion als Programmierer, hätten wir nächste Woche acht Sprachen, übernächste neun, und schon bald würden die Leute sich beklagen, dass die Lesung zu lang wird. Und sie würden Recht haben. Ich hatte scherzhaft nochmal betonen wollen, dass sieben Sprachen eindeutig genug sind. Aber diesen Witz hat scheinbar niemand verstanden. Und ein Gruppenmitglied hatte nachgehakt: „Du hoffst doch wohl, dass es so weiter geht!“ Und ich hatte versucht zu erklären: „Wollte sagen, dass wenn das so weitergeht, müssen wir es vielleicht wie in Taizé machen: Volltext nur in 2-3 Sprachen und die anderen Sprachen lesen nur ein paar Sätze“.

Und dieser letzte Satz vom Montagabend war Stein des Anstoßes für Annelys erste Kurzmitteilung gestern Morgen. Ich hatte sie mir denken können, denn wir hatten schon des öfteren darüber geredet, dass jegliches Missverständnis in so einer großen Gruppe Schaden anrichten kann. Ich hatte auf ihre Kurznachricht geantwortet „Okay, aber dann werde ich überhaupt nichts mehr in die große Gruppe posten, denn wo ist die Grenze?“ Die Grenze ist mir jetzt wieder etwas klarer: meine kurzen Berichte über das, was wir erlebt haben, sind willkommen, aber dumme Witzchen eben bitte möglichst vermeiden. Und wenn es wie gestern trotzdem mal passiert, dann kriege ich eben Zigarren vom Chef und lerne daraus.

Dies alles erfuhr ich nach einigem Hin und Her ich im ersten Teil unseres halbstündigen Gesprächs. Die erste Kurznachricht war aber insgesamt noch relativ schnell erledigt, die zweite bescherte mir mehr Arbeit. Die hatte gelautet: „Wohin ist der Teil der laudate.ee-Seite verschwunden, wo man die Solopartituren runterladen kann? Oder ist der noch da und ich finde ihn nicht?“ Ich erspare euch und mir jetzt die Details, aber deswegen hatte ich nach unserem Gespräch noch zwei Stunden Arbeit. Unter Anderem habe ich zwei weitere Verse vom Psalm 145 in MuseScore eingegeben. Die hatte ich am vorigen Montag im Bus auf dem Weg zum Gebet geschrieben. Bei den Liedern aus Taizé sind Soloverse jene Texte, die von Solisten über den Chorgesang hinweg gesungen werden. Dazu gibt es eigene Partituren. Die Communauté hat bisher keine estnischen Soloverse herausgegeben. Seit Jahren sammle ich handgeschriebene estnische Übersetzungen solcher Partituren, die mir hier und da in die Hände fallen. Und ich veröffentliche meine Sammlung auf der Webseite laudate.ee. Genauer gesagt veröffentliche ich sie nicht, sondern stelle sie zum Download zur Verfügung für diejenigen, die das Passwort kennen. Das muss aus juristischen Gründen so sein, weil die dazugehörigen Autorenrechte noch lange nicht geklärt sind.

Nachdem ich dann nochmal eine Stunde zum Programmieren gefunden hatte, erhielt ich um 19.20 Uhr eine neue Kurznachricht, diesmal von Bruder Luc: dass Bruder Philip live auf TV7 zu sehen sei. Außer Bruder Philip erzählte auch Annely, dass sie fünf Jahre lang in Taizé gelebt hat. Und en passant erwähnte sie übrigens auch die sieben Sprachen vom Montag. Aber ich schaue nur eine Viertelstunde lang und ich bin erstaunt: da haben sie also eine zweistündige Fernsehsendung produziert anlässlich des bevorstehenden Europäischen Jugendtreffens, und ich erfahre das erst jetzt. Typisch. Aber es stimmt ja: TV7 ist der estnische Christenkanal, den schauen eh nur Christen. Was soll ich denen groß erzählen.

Und ich bin erstaunt, wie gleichgültig mich all dieses Gerede lässt. Aber zumindest ein Satz ist mir offenbar nicht ganz gleichgültig. Kaimo begleitete mit der Gitarre ein Ensemble von vier Sängern, die zwischen den Gesprächen Lieder aus Taizé vortrugen. Auch hier nichts Neues: ich kannte keinen der Sänger und ich fand es eher doof, wie sie da so vor der Kamera standen und sangen, als würden sie dafür bezahlt. Aber eines der Lieder, das sie sangen, war mir neu: „Sinu käes on kõik minu aeg“ (In deiner Hand steht meine Zeit, Psalm 31). Und das hatte ich heute morgen noch immer im Kopf. So dass ich die zweistündige Fernsehsendung im Archiv von TV7 raussuchte und erfuhr, dass das Lied angeblich von Hugo Lepnurm geschrieben ist. Hugo Lepnurm ist 1999 gestorben, und der soll ein Lied im Taizé-Stil geschrieben haben?! Das glaube ich nicht. In der Tat, seine Version klingt anders, hier wird sie von Ott Indermitte (Bariton) und Piret Aidulo (Orgel) vorgetragen. Jemand hat zwei Sätze daraus im Taizé-Stil arrangiert. Was ich nur sagen wollte: erstaunlich, dass genau Psalm 31 in meinen Burnout auf solch einem Umweg zu mir kommt? Ich mache mir Sorgen, weil ich meine Arbeitszeit „nutzlos vergeude“, und dann das: meine Zeit steht in Gottes Hand.

Kann es sein, dass ich beleidigt bin? Ich, der ich so viel getan habe für die Kirche in Estland! Meine jahrelange Arbeit für die Taizé-Freunde in Estland wird durch die Organisatoren des Europäischen Jugendtreffens komplett ignoriert! Das Europäische Jugendtreffen in Tallinn wird reibungslos ablaufen, und zwar ganz ohne meine Hilfe! Da könnte man doch beleidigt sein, oder? Nein, diese Diagnose unterschreibe ich nicht, denn im Grunde passt doch alles. Ich habe das doch selbst so gewollt. Schon im Januar spürte ich, dass ich bei der Organisation des Treffens eher stören als nützen würde. Für so ein Großprojekt braucht man keine Systemverbesserer, die begeistert ihre Visionen verkünden, sondern zuverlässige Teamworker, die demütig ihre Pflicht tun. Die Organisatoren des Europäischen Jugendtreffens ignorieren mich nicht, sondern sie respektieren meinen Wunsch. Wie gesagt: ein heilsamer Schock.