Abschied vom Viru Folk

Montag, 12. August 2024

Hallo Freunde,

dieses Wochenende war ich zum fünften und letzten Mal mit den estnischen Taizé-Freunden beim Festival „Viru Folk“ in Käsmu. Das ist etwas Ähnliches wie der Musik-Marathon in Eupen, ich habe auch schon früher davon erzählt, siehe Sommerbericht und Montag, 15. August 2022.

Die Teilnahme am Viru Folk war in diesem Sommer mein einziges „Abenteuer“, das einzige Mal, dass ich zweimal hintereinander nicht zu Hause in meinem präparierten Bett schlief. Ich bin ja jetzt behindert. Sowohl in Vigala als auch in Tallinn habe ich einen Hocker unterm Kopfende des Bettes, so dass ich auf einer schiefen Ebene von 15 Grad liege. Wenn ich noch flacher liege, schwappt irgendwann mein Magen über.

Die Matratze auf nebenstehendem Foto hat mir wahrscheinlich das Wochenende gerettet, denn dank ihr konnte ich trotz meiner Behinderung relativ normal schlafen. Davon abgesehen erinnert uns das Bild allerdings auch an die Geschichte von dem Gelähmten, zu dem Jesus sagte „Steh auf, nimm deine Liege und geh!“ (Joh 5:8)

Die Teilnahme am Viru Folk war seit Jahren eines meiner größten ehrenamtlichen Projekte zugunsten der estnischen Kirche. Wir nutzten das Festival sozusagen aus, um eine genügend große Zahl von Leuten dazu zu kriegen, dass sie für ein Wochenende zusammenkommen und wie in Taizé einfach leben und dreimal täglich miteinander beten. Ich finde das genial und habe da immer recht viel Herzensblut reingesteckt.

Als ich im März nach meinem Sturz alle ehrenamtlichen Verpflichtungen absagte, gelang mir das für für den Viru Folk nur teilweise. Ich sagte zur Verantwortlichen der Kirchengemeinde: „Okay, die Gebete und Proben werde ich dieses Jahr noch leiten, aber die Leute einladen und registrieren musst du ab jetzt alleine machen.“

Mein Plan für unsere Gebete war dieses Jahr recht einfach: vor jedem Gebet würde ich die Lieder auswählen in Funktion der anwesenden Sänger, falls nõtig würden wir eben nur die ganz einfachen und altbekannten Lieder singen.

Aber eine Woche vor dem Festival meldete sich Silja, eine der eingeschriebenen Teilnehmer, mit Vorschlägen zur musikalischen Gestaltung. Sie ist Musiklehrerin und wollte einige neue Lieder singen und auch Instrumentalisten einladen und deshalb zwei fertige Liedblätter benutzen. Ich fand das keine gute Idee, aber ich spürte, dass sie begeistert war und nutzte die Gelegenheit: „Ja, wenn du die musikalische Leitung der Gebete und Proben übernimmst, dann können wir das gerne so machen.“

Und so haben wir das dann auch gemacht. Musikalisch ordnete ich mich Silja unter. Das war nicht leicht, denn Silja und ich haben recht unterschiedliche Prioritäten: für mich ist es wichtig, dass jeder Teilnehmer ermutigt wird, mitzusingen. Silja dagegen findet eher, dass die meisten Teilnehmer gar nicht mitsingen wollen und stattdessen lieber still zuhören. Ihr könnt euch vorstellen, dass meine Methode auf Kosten der musikalischen Qualität geht.

Dazu will ich etwas ausholen. Wenn man in einem ordentlichen gemischten Chor singt, ist vor allem eines wichtig: dass man keine einzelne Stimme heraushört.

Gegen diese Regel habe ich schon vor 25 Jahren im Eupener Jugendkammerchor verstoßen. Da waren wir nur zu einer Handvoll Männer gegen eine Armee von Sopränen und Älten. Ich hätte es irgendwie sinnlos gefunden, „so zu singen, dass man mich nicht hört“. Dadurch kam es wohl auch, dass uns die Jury nach einem Einstufungsauftritt einmal kritisiert haben soll, dass „der Tenor allerdings leider ein gutes Solo gegeben habe“.

Was will man machen. Ich hatte nunmal 5 Jahre Gesangsunterricht bei Walter Meessen gehabt. Meine großen Vorbilder sind Jacques Brel, Herman von Veen oder Hannes Wader. So wie die würde ich gerne singen können! Die sind in ihrem Element! Schaut sie doch euch mal an:

Aber eine Karriere als Solosänger ist für mich nie in Frage gekommen. Dazu hätte ich ja üben müssen. Singen macht mir eigentlich nur mit anderen zusammen Spaß.

Ich erinnere mich gerne an unsere Singanfälle mit dem Staff von Kala-Nag. Wenn wir zu fünft ein „What shall we do with a drunken sailor“ hinschmetterten, dann erzitterten die Scheiben. Geschulte Musikerherzen konnten das dann möglicherweise nicht ungetrübt genießen, aber wir selber hatten es gut dabei. Und darum ging es doch. Für mich zumindest.

Ach ja, und unser Vokalensemble „Ohrenschmaus“! Gerd Dürnholz und ich hatten irgendwann entdeckt, dass wir „dazu geschaffen waren, miteinander zu singen“. Wir luden Isabelle Brüll, Katja Thess und Iris Breuer hinzu und begannen zu proben. Das war einfach wunderschön. Und wir haben sogar ein paar Konzertchen gegeben und Applaus bekommen. Mein Bruder, der 5 Jahre Violine am Konservatorium studiert hat, nennt uns freilich auch heute noch immer „Ohrengraus“.

Also ich glaube, dass Singen glücklich macht, und versuche meine Mitmenschen manchmal zu ihrem Glück zu zwingen. Deshalb ermutige ich vor einem Gebet die Leute mit allen möglichen Tricks zum Mitsingen. Ich zitiere dann zum Beispiel den Heiligen Augustinus, der gesagt haben soll „Wer singt, betet zweimal“, um dann darauf hinzuweisen, dass er nicht gesagt hat „wer zuhört, wie andere singen“ und auch nicht „wer gut singt“.

Und dieses Jahr war dann beim Viru Folk plötzlich Silja der Chef. Dadurch war alles anders. Mehr als einmal musste ich mich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und ihr zu widersprechen. Auch passierte es immer wieder, dass sie mich mit Finger vor dem Mund an die oben erwähnte oberste Chorregel erinnern musste. Und mehr als einmal dachte ich: Hackerzacker, akademische Chorproben sind so was von langweilig! Nie mehr werde ich in einem Chor singen! Aber insgesamt gelang es mir, ihr zu gehorchen und mein Bestes zu geben. Ich wusste ja: sie ist mein Nachfolger, dank ihr kann ich in Frieden scheiden.

Ja, ich musste in Käsmu zurücktreten, damit andere meinen Platz einnehmen können. Das tut ein bisschen weh. Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich vermutlich noch ein paar Jahre damit gewartet. Aber ich wurde ja nicht gefragt, sondern alle Zeichen deuten einfach nur darauf hin, dass Gott das so will und basta. Mein Abschied vom Viru Folk ist ein weiteres Beispiel für den Stecker, der rausgezogen ist (siehe Immer mit der Ruhe). Und die musikalische Qualität ist durch den Leiterwechsel sicherlich besser geworden. Ich brauche mir also keine Sorgen zu machen.

Der Stecker betrifft nicht nur den Viru Folk und nicht nur meine Begeisterung für die Kirche. Insgesamt hat meine Freude am Singen nachgelassen. Mein Lungenvolumen ist seit meiner Magenkrebs-Operation von 6 auf 4 Liter geschrumpft, und das merke ich beim Singen. Früher sang ich morgens manchmal die Laudes einfach aus Spaß an der Freude. Seit der Operation funktioniert das nicht mehr. Eine Quelle kleiner Lebensfreuden ist vielleicht unwiderruflich versiegt, eine schöne Phase meines Lebens neigt sich dem Ende zu. Mir kommen die Tränen! Zumindest manchmal, wenn ich besonders lebhaft daran denke. Aber ich glaube ja, dass jedes Ende einen neuen Anfang birgt.

Liebe Grüße zur Abwechslung nochmal aus Tallinn
von Luc mit Ly, Mari und Iiris.

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.