Immer mit der Ruhe

Freitag, 28. Juni 2024

Hallo Freunde,

fast vier Monate habe ich für diesen Rundbrief gebraucht. Vielleicht weil ich nicht so recht weiß, wie es mir geht. Geht es mir gut mit gelegentlichen unangenehmen Momenten? Oder geht es mir schlecht mit gelegentlichen angenehmen Momenten?

Beim letzten Rundbrief (Eine unschöne Überraschung) war hier in Estland noch Winter, jetzt ist Sommer. Meine Oberschenkelhalsprothese fühlt sich schon wieder fast wie das Original an, ich schlucke jetzt jeden Abend eine Pille gegen Osteoporose, und mein ärgstes Gesundheitsproblem ist weiterhin „nur“ der Schlaf. Gesundheitlich nichts Interessantes zu berichten.

Wegen meiner Schlafbehinderung ist übrigens klar, dass ich dieses Jahr weder nach Belgien kommen noch sonstwie verreisen werde. Erst recht nicht im Sommer. Jetzt, wo wir keine Großeltern mehr zu besuchen haben, wollen wir den Sommer endlich wieder in Vigala verbringen.

Die kleinen Freuden sind es, die das Leben schön machen. Für mich ist eine davon hier in Vigala das Feuermachen und das Kochen und Braten mit selbstgemachter Energie. Jeder normale Mensch lässt im Sommer den Herd kalt und kocht Kaffeewasser und Eier elektrisch. Aber ich habe auch nach zwanzig Jahren noch Spaß daran, morgens nach dem Aufstehen als erstes ein Feuer im Herd zu starten.

Eigentlich sollte ich ja nach dem Aufstehen als erstes eine Runde Gymnastik machen. Aber dazu ich kriege mich einfach nicht motiviert. Haruki Murakami beschreibt in „Kafka am Strand“ einen Jugendlichen, der täglich im Fitnessstudio trainieren geht. Ich vestehe das theoretisch, aber nachvollziehen kann ich es nicht. Beim Rasenmähen kann ich mich sportlich verausgaben und freue mich über die getane Arbeit. Vorgestern bin ich mit dem Fahrrad zur fünfzehn Kilometer entfernten Tankstelle gefahren, um Benzin für den Rasenmäher zu kaufen. Ich hätte auch die Nachbarn fragen können, aber die hätten sich möglichwerweise geweigert, Geld dafür anzunehmen, und die zweieinhalb Stunden Sport haben mir gut getan. In Eupen gibt es eine Gruppe von Freunden meines Alters, die sich einmal pro Woche treffen, um unter Führung eines pensionierten Turnlehrers irgendwie Bewegung in ihre Körper reinzukriegen. Sie nennen das „Turne bis zur Urne“. Und nach dem Training setzen sie sich gemeinsam hin und holen die verbrauchten Kalorien in Form von Flüssignahrung wieder zu sich. Das alles finde ich normal. Aber Morgengymnastik? Fitnessstudio? Sich ohne Notwendigkeit, einfach so, körperlich anstrengen? Ich vestehe es theoretisch, aber ich habe es bisher noch nicht nachvollziehen können.

Dass ich mir zum Benzinkaufen zweieinhalb Stunden Zeit frei genommen habe, liegt auch daran, dass ich meinen Führerschein für ein Jahr gesperrt bekommen habe. Als ich mir nämlich im Februar den Oberschenkel brach, war das nicht etwa, weil ich auf dem Eis ausgerutscht wäre. Sondern ich war auf der Straße ohnmächtig geworden und es könnte sein, dass das ein epileptischer Anfall war, provoziert durch meinen chronischen Schlafmangel. Und wenn in Estland ein Arzt dir einen epileptischen Anfall diagnostiziert, wird automatisch dein Führerschein für ein Jahr gesperrt. Und in Estland funktioniert der Datenabgleich zwischen den diversen staatlichen Instanzen recht gut, verglichen mit Belgien, wo die linke Hand oft nicht weiß, was die rechte tut.

Es ist mir manchmal fast schon unheimlich, wie ruhig das Leben hier in Vigala ist. Das Wachsen des Unkrauts ist sozusagen die auffallendste Entwicklung. Heute morgen erfuhr ich zufällig, dass es dieses Jahr eine Fußball-Europameisterschaft gibt.

Mari verpasst zumindest die ersten drei Wochen des Sommers in Vigala. Sie ist nämlich in Norwegen als ehrenamtliche Leiterin auf einem Jugendlager der CISV. Vierzig vierzehnjährige Jugendliche aus zehn Ländern. Einer der Esten scheint besonders aufmüpfig zu sein, also sie hat keine Langeweile.

Iiris ist mit uns in Vigala und genießt die Ruhe auf ihre Art: arbeitet mindestens ganztags am Telefon und saugt alles über ostasiatische Kulturen in sich auf, was das Internet bietet. Auch Ly und ich kriegen manchmal etwas davon mit: Mit Jugendlichen über das Leben reden oder Crash-Kurs in K-Pop.

Dass ich nicht weiß, ob es mir „gut“ oder „schlecht“ geht, hat nichts mit den bisher erwähnten oberflächlichen Dingen zu tun. Durch den Unfall hat sich etwas in mir verändert. Irgend etwas ist vielleicht kaputt gegangen. Ein Stecker ist rausgezogen und der Ventilater dreht nur aus Trägheit noch eine Zeitlang weiter. Oder ein Kartenhaus ist in sich zusammengegestürzt. Die passendeste Umschreibung ist: Gott hat ein klares Wort zu mir gesprochen. Was er gesagt hat, würde ich wie folgt formulieren: „Luc, jetzt hör endlich auf, den Kirchenleuten zeigen zu wollen, wie sie ihre Arbeit machen sollen. Die wollen das gar nicht hören. Du brauchst die Welt nicht zu retten. Vergeude deine Zeit nicht länger. Du hast Wichtigeres zu tun.“ Und was er mit dem „Wichtigeren“ meint, scheint mir ebenfalls klar: Lino. Das ist das einzig Nützliche, das ich noch zu tun habe im Leben. Zumindest wenn man „nützlich“ definiert als „das, was anderen Menschen so viel Nutzen bringt, dass die dafür Geld zahlen“.

Wenn ich das so biblisch umschreibe mit den Worten „Gott hat zu mir gesprochen“, dann denkt bitte nicht, dass ich einen besonderen Draht zu Gott hätte. Ihr habt so etwas bestimmt auch schon erlebt. Es war keine Eingebung, die ich sozusagen diktiert bekommen hätte. Es war auch eindeutig nicht der Unfall selber, der war höchstens Katalysator. Es waren eher Dutzende von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, mit ganz unterschiedlichen Menschen, die irgendwie ständig in die gleiche Richtung zu weisen schienen. Bis dir dann irgendwann „ein Licht aufgeht“ und es dir „wie Schuppen von den Augen fällt“.

Wie wird man glücklich im Leben? Wenn man für eine Sache arbeiten darf, an die man glaubt. Ich darf das seit drei Jahrzehnten und werde es voraussichtlich noch mindestens ein Jahrzehnt lang dürfen. Es gibt genug zu tun. Sogar auf den guten alten TIM kommt im nächsten Jahr noch mal eine interessante Neuerung zu. Vorige Woche erzählte mir ein Kunde, dass elektronische Rechnungen ab Januar 2026 Pflicht werden (Obligation de facturation électronique en Belgique à partir de 2026). Technisch gesehen ist das einfach, die eigentliche Herausforderung besteht darin, sich durch das Labyrinth der Spezifikationen zu wühlen. Schon die elektronische Kommunikation mit der belgischen Banque Carrefour de la Sécurité Sociale ist kein Pappenstiel, aber bei PEPPOL haben 27 Nationalregierungen mitgemischt! Noch vor einem Monat hätte ich nicht geglaubt, dass die das zu meinen Lebzeiten schaffen werden. Bin beeindruckt von der EU.

Und jetzt kommen noch einige Fotos. Hier fahren wir mit dem Zug zur nächsten Station ins Restaurant, um Mutters Geburtstag zu feiern.

Bis vor einem Monat teilten Ly und ich uns das Krückenpaar, und im Zug setzten wir uns ohne Gewissensbisse auf den Platz für Gehbehinderte.

Mehrmals hatte ich die Ehre, mit Iiris in die Stadt zu dürfen. Jetzt weiß ich, was Bubble Tea ist.

Im Auto sitzen die Alten jetzt hinten und die Jungen vorne.

Wenn Mari fürs Wochenende nach Tallinn kommt, machen wir kurze Ausflüge nach Vigala zum Rasenmähen und Grillen. Eine Lärche wuchs zwischen unseren Pflastersteinen.

Meine Frau auf dem Markt in Nõmme. Meine Tochter in ihrem frisch renovierten Kot und beim Reifenwechsel.

Frühlingskonzert des Jugendzentrums, wo Iiris Bassgitarre lernt.

So. Jetzt ist Freitagabend. Ich fahre mal schnell die zwei Kilometer nach Vana-Vigala, um ein bisschen Stimmung vom diesjährigen Hard Rock Lager mitzukriegen. Morgen fahren wir mit dem Bus für einige Tage in die Stadt, um diverse Dinge zu erledigen.

Liebe Grüße aus Vigala
von Luc mit Ly, Mari und Iiris.

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.