Mein erster Tag im „Hotel Gasthuisberg“

Dienstag, 7. März 2023. Voraussichtlich mein letzter Blogeintrag in dieser Woche.

Heute morgen bin ich um 6.15 Uhr in Eupen in den Zug gestiegen und nach Leuven gefahren. Frühestens nächsten Freitag komme ich wieder zurück.

Die Leuvener Uniklinik ist riesig, noch größer als das Aachener Klinikum. Etwa 10.000 Leute arbeiten hier, inklusive nicht-medizinischem Personal wie Köchen und Raumpflegern. 110 davon tun nichts anderes, als Patienten von einem Punkt zum anderen zu begleiten.

Auch heute wieder wurde ich wie schon vorige Woche von einer kleinen Legion von Schutzengeln empfangen, interviewt und untersucht. Ein Kinesitherapeut ließ mich 6 Minuten lang so schnell wie möglich gehen, notierte die Strecke, die ich gegangen war und fragte mich dann, ob ich außer Atem sei und ob meine Beine sich schwer anfühlten. Ein Krankenpfleger stellte mich auf eine besondere Waage, die daraufhin ausrechnete, dass 25,7 Kg meines Körpers Muskeln sind, der Rest sind Knochen und Flüssigkeit. Mein Hauptengel heißt Céline und wir haben einander heute schon Details aus unseren jeweiligen Privatleben erzählt, die deutlich über sachliche Themen hinaus gehen.

Gegen 19 Uhr kam Dr. Depijpere, der mich morgen operieren wird. Scheinbar ist es doch nicht Dr. Nafteux persönlich (wie der Abteilungsarzt mir noch kurz zuvor gesagt hatte). Das scheint aber hier in Leuven typisch zu sein: man legt viel Wert auf Austauschbarkeit. Finde ich gut.

Auch diesem Chirurgen erzählte ich mein verrücktes Angebot: „Ich glaube, dass ich zu den 10% der Fälle gehöre, bei denen der Krebs allein durch die Chemotherapie komplett verschwunden ist. Also wenn Sie morgen meinen Magen mit eigenen Augen sehen und den Eindruck haben, dass da gar nichts rausgeschnitten werden muss, dann können Sie die Operation gerne abbrechen, ich spiele gerne Versuchskaninchen, schlimmstenfalls muss ich in ein paar Jahren nochmal eine neue Chemotherapie beginnen.“ Er bedankte sich für das Angebot und versichterte mir jedoch, dass das nicht passieren würde. Und ich versicherte ihm meinerseits, dass ich das ja lediglich gesagt haben wollte und ansonsten volles Vertrauen in seine Entscheidung habe.

Er bestätigte und ergänzte, was ich vorgestern schon von einer jungen Ärztin gehört hatte: dass er zunächst nur ein minimales Stück rausschneidet, dessen Ränder dann noch während der Operation per Gefrierschnitt (niederl. vriescoupe, englisch frozen section) auf Krebszellen untersucht werden, um falls nötig nachschneiden zu können.

Zum Abschied wünschte ich ihm mit Augenzwinkern eine gute Nacht auf dass er morgen in Form sei.

Die Operation startet morgen früh um 8 Uhr. Zunächst kriege ich eine Periduralpumpe eingesetzt, die mir in den Tagen nach der Operation Morphium einflößen wird. Für den Einbau muss ich noch wach sein, um sagen zu können, ob die Pumpe funktioniert.

Das Gespräch mit Dr. Depijpere war ein anschauliches Beispiel für das, was ich kurz zuvor (hier) gelesen hatte: echtes Vertrauen entsteht vor allem durch verbales Feedback, mit dem man beweist, dass man zugehört und verstanden hat.

Gegen 20 Uhr fragte ich einen der wachhabenden Pfleger, ob ich noch einen Spaziergang zur Kapelle machen dürfe. „Natürlich“ war die Antwort. Die Kapelle ist rund um die Uhr geöffnet. Ich ließ mir den Weg beschreiben.

Auf dem Weg zur Kapelle field mir ein bekanntes Gesicht auf: ein Portrait von Arvo Pärt, gemalt durch den gar nicht weit von Leuven lebenden Künstler Roeland Kotsch, der unter anderem Gastdozent in Finnland war [Quelle]. Die Kapelle hat neben einer Ecke für Moslems auch eine für Kinder. Das Altarbild des französischen Künslers Arcabas (1926–2018) stellt die Auferweckung der Tochter des Jairus dar.

Ich war der einzige Besucher der Kapelle und hätte gerne was gesungen, aber leider lief Musik vom Band, und den Knopf zum Abschalten fand ich nirgendwo. Immerhin ertönten vom Band unter anderem drei Lieder aus Taizé, die ich mitsingen konnte: Benedictus qui venit, Behüte mich, Gott und La ténèbre.

Ich habe endlich mal meinen Artikel über Geschlechtsneutrale Grammatik begonnen und in diesem Blogeintrag probeweise angewandt.

Eigentlich wollte ich heute auch am Lagerverwaltungsmodul für Lino arbeiten, aber dazu hatte ich dann einfach nicht die Zeit.