Was liebst du?

Samstag, 8. März 2025

Hallo Freunde,

hier das Resultat meiner Studie von voriger Woche. Ich war bei weitem nicht der einzige, der Göttingen nicht kannte. International scheint das Lied bekannter zu sein als in Ostbelgien. Vielleicht sind wir einfach zu jung: die Ostbelgier unserer Generation brauchten dieses Lied nicht mehr, weil es seine Früchte schon getragen hatte. Vielleicht haben die Ostbelgier dieses Lied nie gebraucht, weil wir zwischen den Fronten leben. Jedenfalls dünkt mir, dass solche Lieder jetzt nötig wären für gewisse Völker.

Ein Freund fragte mich: „Unser Körper ist der Tempel unserer Seele auf der Erde. Wenn wir der Seele nicht zuhören, spricht sie über unseren Körper mit uns. Was hast du zum Beispiel all die Jahre runtergeschluckt? Dass dann mal eine Krankheit entsteht, ist doch gut verständlich, oder? Es geht darum, die Gedanken zu verändern und anders zu handeln. (…) Wo willst du eigentlich gerade sein? Was willst du tun? Was liebst du?“

Und das ist nicht das erste Mal, dass ich mit diesen Fragen konfrontiert bin. Seit meinem Krebs stellen nicht nur meine Freunde sondern auch ich selber mir ständig diese und ähnliche Fragen. Deshalb versuche ich mal eine Antwort. Aber glaub nicht, dass es da eine einfache Antwort drauf gibt. Ich fange mal mit der letzten Frage an.

Ich liebe es, wenn ich mit einem Kunden oder einem Kollegen nach oft langen Recherchen endlich die Lösung für ein Problem gefunden habe. In Softwareprogrammen geht es oft zu wie im Kriminalroman. Gestern Morgen haben Sharif und ich über eine Stunde lang gesucht für Ticket 5610, an dem wir seit neun Monaten knabbern. Die Lösung war eine einzige Programmzeile.

Ich liebe es, wenn ich anderen Menschen durch einen Impuls zu einer neuen Erkenntnis oder einem positiven Erlebnis verhelfen kann. Deshalb drücke ich den Touristen, die während unserer Probe die Kirche betreten, gerne ein Liedheft in die Hand, zeige ihnen wo wir dran sind und lade sie zum Mitsingen ein. Freilich flüchten zwei von dreien dann schnell, aber die Restlichen legen später oft erstaunliche Dankeszeugnisse ab.

„Es geht darum, die Gedanken zu verändern und anders zu handeln“, schreibt besagter Freund. Ich muss zugeben, dass der Krebs erstaunlich wenig in meinem Leben verändert hat. Als hätte ich nichts gelernt aus der ganzen Geschichte. Ja, ich versuche keine Dinge mehr runterzuschlucken, die mir nicht gut tun. Aber das ist leichter gesagt als getan. Mit der Hüftprothese und ohne Speiseröhre ist das Leben nicht mehr so angenehm wie früher. Aber gerade deshalb bin ich mir meiner Endlichkeit bewusster geworden, genieße jeden einzelnen Tag und lass es mir gut gehen.

Eigentlich ist Veränderung ja auch in der Bibel immer wieder Thema. Umkehr wird es da genannt: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Umkehr verstehe ich dabei als die Bereitschaft, meine Meinung zu ändern und meine Überzeugungen loszulassen. Paradoxerweise ruft uns die gleiche Bibel aber auch immer wieder auf, standhaft zu sein. Also eben nicht umzukehren, nicht aufzugeben, sein Fähnchen nicht in den Wind zu hängen.

Also es gibt Dinge, die sind wahr und gut, und an denen müssen wir festhalten. Und andere Dinge sind es nicht, und die sollten wir loslassen, also keine Zeit und Energie daran vergeuden. Die Herausforderung besteht lediglich darin, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wofür lohnt es sich zu leben und zu kämpfen, und wofür nicht?

„Wie stehst Du zu den Waffenlieferungen an die Ukraine? Richtig oder falsch?“ fragte mich ein anderer Freund vor kurzem. Haha, Luc als politischer Kommentator! Nun gut, ich versuchs mal. Die meisten Europäer sind überzeugt, dass die Ukraine das Opfer sind und Russland der Übeltäter. Ich vermute, dass ebensoviele Menschen in Russland überzeugt sind, dass sie etwas unternehmen mussten, weil doch die Amerikaner immer näher kamen. Also wissen wir, dass wir es nicht wissen. Und wenn man etwas nicht weiß, dann richtet man sich nach seinem Glauben. Ich glaube, dass es einfach zweifellos falsch ist, sich gegenseitig die Häuser kaputt zu schießen. Alles, was wir in Waffenarsenale investieren, fehlt uns um die Armut zu bekämpfen, das Bildungs- und Gesundheitswesen zu verbessern oder um eine menschenwürdige Zukunft für den Einsatz von Technologie zu gewährleisten (hier gelesen). Ich glaube auch, dass Territorialkriege altmodisch sind, in Zukunft geht es viel mehr um digitale Souveränität (hier gelesen).

Hannes Hüttner erzählt in seinem Kinderbuch „Das Blaue vom Himmel“ aus dem Jahr 1974 folgende Geschichte (Seite 151-152):

Da war Hermanns Opa abends nach Hause gekommen und wollte das Haus aufschließen, aber er fand das Schlüsselloch nicht. Vielleicht hatte er im Gasthaus ein wenig zuviel getrunken. Jedenfalls dachte er sich etwas aus, er malte um das Schlüsselloch einen weißen Ring, damit man sofort sah, hier war das Schlüsselloch. Aber hinterher erkannte er, daß es nichts nützt, die ganze Tür war ja weiß, da konnte man den Ring nicht erkennen. Drum malte er die Tür schwarz. Jetzt sah man den weißen Ring besser, aber die Tür erkannte man schlecht, weil das ganze Haus schwarz war.

[Einen Teil der Geschichte schneide ich hier raus, damit das noch als Zitat gilt und ich es ohne Erlaubnis der Rechteinhaber veröffentlichen darf]

Und er dachte nach, wie man das ändern könnte. Er hatte vor, die Nacht ganz hell zu machen. Aber das redeten ihm Hermann und die Oma aus, denn dann müßte er ja auch den Tag schwarz malen, dann würde die Nacht zum Tag und der Tag zur Nacht. Nachts schiene die Sonne und tags der Mond, und obendrein könnte er dann zur Nacht, nämlich zu der Nacht, die früher Tag war, wieder nicht den schwarzen See sehen. Da fiel es endlich Hermann wie Schuppen von den Augen: Sie brauchten ja nur einen schwarzen Ring um das Schlüsselloch zu malen, dann könnte die Tür weiß bleiben, das Haus schwarz, die Birken weiß, die Buchen schwarz, der See weiß, die Nacht schwarz, der Tag hell, und alles hätte seine Ordnung.

So einfach ist das manchmal im Leben.

Ja, so einfach ist es, sich zu irren. Und aus solchen unscheinbaren aber fundamentalen Irrtümern können enorme Denkkonstruktionen erwachsen, ganze Wirtschaftssysteme. Hüttners Geschichte vom Schlüsselloch ist ein wunderschönes Gleichnis dessen, was momentan in der Menschheit geschieht. Wir überlegen, wie wir die Nacht ganz hell machen könnten, obwohl wir doch eigentlich nur einen schwarzen Ring ums Schlüsselloch brauchen.

Ly und ich überlegen zur Zeit, ob wir zusammen mit meiner Schwester eine Wohnung in Eupen kaufen sollen, die diese dann bewohnen würde. Wer meine Schwester kennt, weiß, wie gewagt dieses Projekt ist. Ich glaube entgegen vieler wohlgemeinter Ratschäge, dass wir das tun sollten. Richtig oder falsch? Wieder so eine Schlüssellochfrage.

So geht das hin und her im Leben. Deshalb hier noch eine dritte Antwort auf den Titel: ich liebe es, wenn ich in der Kirche manchmal das Gefühl habe, der Wahrheit ganz nahe zu sein. Mag sein, dass diese Momente nur kurz und vorübergehend sind, aber die halten mich am Leben und geben mir immer wieder neue Energie.

Heute ist Internationaler Frauentag, deshalb bin ich heute Morgen mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren in der Hoffnung, ein paar Schneeglöckchen zu finden. In manchen Gärten und wahrscheinlich auch in Vigala standen schon ein paar ganz vorwitzige, aber die einen konnte ich aus juristischen und die anderen aus geografischen Gründen nicht pflücken. Nach einer halben Stunde gab ich die Suche auf und schloss mich der Menge der Männer an, die im Einkaufszentrum Blumensträuße für ihre Frauen kauften.

Mit lieben Grüßen aus Tallinn von
Luc mit Ly, Mari und Iiris

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.