Karneval in Tallinn

Rosenmontag, 3. März 2025

Hallo Freunde,

wenn ihr heute im Karnevalszug „Alaaf!“ ruft, dann kriegen wir hier in Estland rein gar nichts davon mit. Also lasst meinen Rundbrief ruhig noch bis Aschermittwoch ungelesen in eurem Postfach liegen und lasst euch nicht vom Feiern abhalten, ich habe sowieso nichts Besonderes zu erzählen, ich schreibe euch eigentlich nur aus Spaß an der Freude und um für mich selbst mal wieder der Frage nachzugehen, wie es mir geht.

Auch ohne Karneval habe ich kein bisschen Langeweile. Sharif ist wieder auf seinem Posten, fast jeden Morgen treffen wir uns für eine halbe Stunde zu einem Videotreffen. In Bangladesh haben sie schon gestern mit der Fastenzeit begonnen. Lino und TIM stehen vor einer interessanten Herausforderung, weil alle belgischen Unternehmen ab Januar 2026 ihre Rechnungen elektronisch verschicken müssen. In den kommenden Wochen wird ein erster Pilotkunde unsere Lösung in Betrieb nehmen und bis August will ich alle TIM-Benutzer versorgt haben (mehr dazu in meinem letzten Firmenrundbrief).

Gesundheitlich nichts Neues: ich bleibe bei meinem Schlafmangel und Ly bei ihrer Arthritis. Zweimal pro Tag mache ich einen kleinen Spaziergang, aber zu systematischem Sport habe ich mich immer noch nicht überredet bekommen. Vorgestern bat ich meinen Bruder, mir mal zu erklären, was am Badmington so faszinierend ist, dass er es wöchentlich mit Freunden spielt, aber als er antworten wollte, wurde unsere Leitung unterbrochen.

Iiris hat gerade eine Woche Schulferien hinter sich, von der sie aber den größten Teil mit Fieber im Bett verbracht hat. Voriges Wochenende fuhr ich mit Mari und ihrem Freund Krissu nach Vigala. Ich habe ja noch bis Ende März meinen Führerschein gesperrt, deshalb nutzen wir Mari gerne als Chauffeur, wenn sie uns in Tallinn besuchen kommt. Das tut sie nur noch alle paar Wochen, ansonsten hat sie ja jetzt ihr eigenes Leben in Tartu.

Ich habe eine Frage an euch alle, für eine kleine private Studie: Kennst du das Lied „Göttingen“ der französischen Sängerin Barbara aus dem Jahr 1964? Und wenn ja, seit wann kennst du es? Antworte einfach kurz und formlos per E-Mail auf diesen Rundbrief.

Weshalb ich das frage, ist eine längere Geschichte.

Vor einigen Wochen musste Iiris für die Schule Victor Hugos kompletten Notre-Dame de Paris lesen. Wohlbemerkt die estnische Übersetzung; sie hat zwar dieses Jahr auch einen Französischkurs begonnen und lernt schnell, aber so schnell dann doch nicht. Als sie fertig war, habe ich es auch mal probiert. Ich hatte Victor Hugo nie gelesen –bin eben nie dazu gezwungen worden– und dachte mir, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, diese Kulturlücke zu stopfen. Aber ich habe nur die ersten zehn Seiten geschafft, danach hatte ich keine Lust mehr. Vielleicht weil die Sätze zu lang und verdreht waren. Oder lag es daran, dass es mir einfach „verkehrt“ vorkam, diese Geschichte in estnisch zu lesen? Vielleicht werde ich sie demnächst mal in der Originalsprache lesen, was ich ja dank des Projektes Gutenberg jederzeit von meinem Telefon aus tun kann.

Aber vorher will ich noch ein anderes Buch zu Ende lesen. Als ich nämlich den Hugo zur Bibliothek zurückbrachte (jawohl, hier in Estland gibt es noch Bibliotheken, mit Regalen voller echter Bücher aus Papier), hatte ich dann doch ein schlechtes Gewissen gegenüber der französischen Kultur und schlenderte deshalb durch die Romane und nahm mir aufs Geratewohl ein Buch von einem anderen Franzosen, einem gewissen David Foenkinos. Nie gehört hatte ich den Namen, aber von dem standen mehrere Bücher da. Ich nahm mir eines mit, dessen Titel „Henri Picki müsteerium“ (Le mystère Henri Pick) lautete. Das lese ich jetzt. Ich weiß nicht, ob es so gut ist wie der Hugo und in zweihundert Jahren Pflichtlektüre sein wird, aber es liest sich jedenfalls leichter.

Die Geschichte von diesem Henri Pick spielt ungefähr im Jahr 2015. Im elften Kapitel des siebten Teils stöbert Joséphine in ihren alten Schallplatten, lauter bekannte Namen wie Pink Floyd wie Alain Souchon, und dann stößt sie zufällig auf ein Album einer Sängerin namens Barbara aus dem Jahr 1967. Ein Lied namens Göttingen soll die gesungen haben. Ich schlug das nach und tatsächlich, ja, auch die Wikipedia berichtet davon, und Youtube erlaubt mir gnädigerweise nach einer kurzen Reklamedusche, es anzuhören. Barbara war tatsächlich als Jüdin von den Nazis verfolgt worden und schrieb zwanzig Jahre später „Ô faites que jamais ne revienne / le temps du sang et de la haine / car il y a des gens que j’aime / à Göttingen, à Göttingen.“

Also erst vor ganz kurzer Zeit, im Jahr 1964 –ich war noch nicht geboren aber meine Eltern kannten sich schon– brauchten die Franzosen und die Deutschen noch solche Lieder, um ihre gegenseitigen Erlebnisse zu verdauen! Und ich erinnere mich ja auch an das Detail, dass die Eltern meines Vaters es im Jahr 1964 nicht leicht hatten als sie hörten, dass ihr Sohn eine „sale boche“ heiraten wollte.

Mich wundert, dass ich trotz alledem jahrzehtelang in der Gewissheit aufgewachsen bin, dass Kriege nur noch zwischen unterentwickelten Kulturen existieren und bald ganz Vergangenheit sein werden. Ich hätte gewettet, dass Michas Prophezeiung von vor knapp dreitausend Jahren („Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“) bald erfüllt wird.

Spätestens seit Putins Invasion in die Ukraine glauben wir ja zu wissen, dass das Illusionen sind. Wir erschrecken, wenn sich wie jetzt bei den Wahlen in Deutschland demokratisch nachweisbar rausstellt, dass wir sehr wohl lernen wollen, endlich mal wieder Krieg zu führen. Wenn ich lese oder höre, was in der Welt da draußen angeblich alles passiert, fühle ich mich wie Frodo der Hobbit, bevor er das Auenland verließ.

Lasst euch dadurch wie gesagt bloß nicht vom Feiern abhalten. Karneval trägt mit dazu bei, in einer scheinbar vom Geld regierten Welt zu zeigen, wer hier der eigentliche Herr ist. Lacht sie aus, die Teufel, die in den öffentlichen Medien so bedrohlich scheinen.

Und David Foenkinos musste also diese Barbara in einem Roman erwähnen, der Roman musste ins Estnische übersetzt werden, Iiris musste Victor Hugo lesen, ich musste auf die Idee kommen, das Buch für sie zur Stadtteilbibliothek von Nõmme zurück zu bringen und dort durch die Regale zu schlendern. Deshalb würde mich mal interessieren, weshalb ich von Barbara noch nie gehört hatte und ob ich der einzige Ostbelgier mit dieser Kulturlücke bin.

So, ich habe natürlich längst nicht alles erzählt, aber hier mache ich einen Punkt und werfe mich wieder in die Arbeit.

Mit lieben Grüßen aus Tallinn von
Luc mit Ly, Mari und Iiris

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.