Eupen ist ne schöne Stadt

Sonntag, 17. April 2016. Wenn ich so auf meine erste Woche dieser Reise zurückblicke, dann kommt mir wie zufällig das Lied „Eupen ist ne schöne Stadt“ in den Sinn. Ja, hier ist es schön. Auch nach 15 Jahren fühle ich mich hier noch wohl. Die ganze Reise kommt mir bisher vor wie eine lange Reihe von Erlebnissen, für dich ich einfach nur staunend dankbar sein kann.

Als ich vorigen Freitag (8. April) pünktlich um 18.25 Uhr in Brüssel landete, hätte ich wahrscheinlich den letzten Zug nach Eupen noch bekommen. Die Zugverbindung zum Flughfen ist zwar nach den Bombenanschlägen noch nicht wieder aufgebaut, aber es gibt eine direkte Buslinie zum Bahnhof Brüssel-Nord. Die brauchte ich aber gar nicht auszuprobieren, denn Georg hatte mich eingeladen, bei ihm zu übernachten. Er holte mich auch wie selbstverständlich mit dem Auto am Flughafen ab. Ich bekam also nicht nur Transport, Kost und Logie geschenkt, sondern einige Stunden Anteil an seinem Leben als Lehrer in der ausländerreichsten Gemeinde Belgiens.

Am Samstagmittag setzte Georg mich am Altenheim in Eupen ab und kam noch kurz mit rein, um meine Eltern zu begrüßen.

Ja, meine Mutter, die aus Liebe zu ihrem Mann mit ihm ins Altenheim geht, obschon sie Angst hat, dass das auch für sie den Anfang vom Ende bedeutet. Ohne Papa würde sie es vielleicht noch einige Jahre alleine aushalten im Favrunpark. Ich sage „vielleicht“, denn sie selber ist sich da nicht so ganz sicher. Und es ist nicht von der Hand zu weisen: ein Altenheim ist keine Rehabilitationsklinik. Die Aufgabe eines Altenheims ist es, den Patienten zu helfen, sich ihrem Schicksal zu fügen. Also es wird nicht leicht für meine Mutter sein, dort wieder „raus“ zu kommen. Ja, wenn sie ein Kind in der Nähe hätte, das sie dabei unterstützt und die Alltagssorgen tragen hilft! Aber dass Bruno und Anne als Begleiter nicht in Frage kommen, hat sie auch sich selbst zuzuschreiben: sie hat nicht gelernt, ihre erwachsenen Kinder geistig loszulassen, hält in vielen grundsätzlichen Fragen ihre Überzeugung für die einzig richtige und hört nie auf, dafür zu kämpfen.

Kurz nach Georg und mir traf auch Anne im Altenheim ein. Ja, meine Schwester Anne, die sich trotz der zuweilen schwierigen Beziehung zu unserer Mutter immer wieder entscheidet, ihre Projekte in Bordeaux warten zu lassen, um hier in Eupen zur Verfügung zu stehen. Auch heute dauerte es keine fünf Minuten, bis die beiden sich in den Haaren hatten. Aber ich bin froh, dass sie hier ist, dass ich nicht allein wohnen muss in unserem Elternhaus während dieser beiden Wochen. Mit ihrer hochentwickelten Kunst des Erzählens geht sie ihren Mitmenschen manchmal auf die Nerven, aber wer ihr zuhört und gelegentlich hilft, auf den Punkt zu kommen, der wird mit unbezahlbaren Geschichten belohnt.

Am Sonntag kam auch mein Bruder Bruno, der es mit unserer Mutter noch schwieriger hat als Anne, und der trotzdem jederzeit bereit ist zu helfen wo er kann. Ohne ihn würden Anne und ich einige wichtige Dinge unkontrolliert laufen lassen.

Mein Vater ist jetzt wirklich ein pflegebedürftiger Greis. Im Gegensatz zu meiner Mutter ist er leicht zu pflegen, weil er sich seinem Schicksal fügt. Ein halbes Jahrhundert lang hat er gelernt, wie man unter den Fittichen seiner starken Frau trotzdem die eigene Persönlichkeit behält. Solange die beiden zusammen sind, musst du schon sehr genau beobachten, um ihn überhaupt wahrzunehmen. Meistens schläft er. Aber einmal konnte ich ihn interviewen und fragte ihn „Papa, wenn man bedenkt, dass wir uns vielleicht zum letzten Mal sehen: was möchtest du mir noch mit auf den Lebensweg geben?“ Er hatte offensichtlich schon oft über diese Frage nachgedacht und antwortete ganz ruhig und überlegt: dass ich meine Rolle als Vertreter unserer Familienwerte in Estland ernst nehmen möge, den Kontakt zur Kirche nicht verlieren solle. Er erkundigte sich nach Vello Salo und bat mich, ihm Grüße zu überbringen. Und er bat mich auch, die geistigen Reichtümer im Favrunpark zu bewahren. Aber so unwichtige Dinge wie die Etage, in der sie wohnen (in der ersten von zweien) oder dem Geheimcode („4321A“), den man eintippen muss, um ihren Flur zu verlassen, dazu meint er nur kopfschüttelnd „Nein, das ist mir zu kompliziert, das behalte ich nicht mehr“.

An der Liebesgeschichte meiner Eltern habe ich leider auch diesmal wieder kaum weitergearbeitet.