Estendeutsch

Unübersetzbare Wörter

Wörter, für die ich noch keine richtig treffende Übersetzung gefunden habe:

  • Wenn Iiris zum Kindergarten geht, muss sie ihre õueriided mitnehmen. Das sind Kleider für draußen, die schmutzig werden dürfen. Die direkte Übersetzung Hofkleider kommt ja wohl eher nicht in Frage.

  • Wie würde man rahvamaja bei uns nennen? Etwa Volkshaus? Oder lieber doch Kulturzentrum oder Begegnungsstätte?

  • Wie übersetzt man toormoos? Wahrscheinlich am ehesten einfach mit Mus. Zumindest wenn es sich um Erdbeeren handelt. Allerdings ist z.B. Apfelmus ja eigentlich doch immer gekocht…

  • Wie übersetzt man Jõudu!? Am ehesten wohl „Viel Kraft!“

  • Wie übersetzt man Võta heaks!? Am ehesten wohl „Nimm es für gut!“

  • Wie übersetzt man Jätku leiba? „Möge das Brot reichen“, „Möge noch Brot übrig bleiben“?

  • Das Wort talgud („eine ehrenamtliche Gemeinschaftsarbeit mit anschließendem Essen und Beisammensein“) wird in Estland viel benutzt, aber seltsamerweise gibt es im Deutschen scheinbar kein Wort dafür. Im Englischen gibt es das Wort „bee“ (in einer seltener verwendeten Bedeutung, nämlich als „A gathering for a specific purpose, e.g. a sewing bee or a quilting bee.“), für die es ebenfalls im Wiktionary kein deutsches Äquivalent gibt, sondern stattdessen wurde ein protogermanisches (fiktives) Wort bōniz geschaffen.

  • Wie übersetzt man lokulaud bzw. lokk? Das ist ein an zwei Kordeln aufgehängtes Brett aus Fichtenholz, das wie ein Gong als Schlaginstrument benutzt wird. Scheinbar wurden damit früher in den baltendeutschen Herrenhäusern die Arbeiter zum Essen gerufen oder Feueralarm geschlagen. Der estnische Wikipedia-Artikel hat inzwischen auch Fotos. In einem estnisch-deutschen Wörterbuch von 1970 (Kallista Kann, Elisabeth Kibbermann, Felix Kibbermann, Salme Kirotar) wird es mit Klopfbrett übersetzt. Schlagbrett fände ich zwar logischer, aber dieses Wort wird schon benutzt für das pickguard bzw. Golpeador).

  • Wie sagt man krõbinad in Deutsch? Es gibt scheinbar in Deutsch keine allgemeine Bezeichnung für „weiterentwickeltes Müsli“, also Getreideprodukte, die man zum Frühstück mit Milch vermischt (Kellog’s nennt sie Frosties, Choco-Pops, Smacks, usw)

  • In der Sauna wird leil gemacht, zu Deutsch am ehesten „Aufguss“ genannt. Ein eigenes Wort dafür gibt es scheinbar nur in den finno-ugrischen Sprachen. Im Proto-Finnischen soll es leülü heißen (laut einem Eintrag auf reddit.com)

  • Auch den viht, diesen in der Sauna benutzten Strauß aus Ästen mit Blättern, nennen wir in Deutsch bestenfalls „Wedel“ oder „Bund“ (?). Und das, was man damit tut, nennen wir phantasielos „schlagen“ (während die Esten logischerweise vihtlema sagen).

  • Einen kiiks würde ich entweder mit Spleen oder mit Marotte übersetzen. Eine Marotte ist harmloser als ein Spleen. Als adjektiv kann man auch schräg sagen (jemand kann schräge Ideen oder Ansichten haben).

  • Auch paduvihm ist ein schönes Wort. In Deutsch braucht man dafür einen ganzen Satz: „Es regnete wie aus Kübeln“. Wir haben zwar auch den Platzregen, aber das ist laut Duden ein „plötzlicher, sehr heftiger, in großen Tropfen fallender Regen von kürzerer Dauer“, während ein paduvihm nicht plötzlich zu kommen braucht und auch nicht gleich wieder aufhören muss.

Was die Esten besser kennen

Wörter, die ins Deutsche übernommen wurden oder übernommen werden könnten:

  • Der Mors (estnisch morss) ist ein Getränk aus mit Wasser verdünntem Beerensaft. In Eupen sagt man manchmal „Grenadine“ (auch dann wenn es gar nicht um Granatäpfel geht). Dass Mors eigentlich aus dem Russischen kommt, wissen viele Esten gar nicht.

  • Eine Burke (estnisch purk) ist ein verschließbares Glasgefäß, das z.B. zum Einmachen von Lebensmitteln verwendet wird. In Deutsch ist das Wort Burke nicht sehr verbreitet und wurde möglicherweise durch Baltendeutsche aus dem Estnischen importiert. In Estland werden auch Getränkedosen aus Blech purk genannt.

  • Ein Hiis ist ein natürlicher Heiligtumsplatz. Wird manchmal mit „Hain“ oder „Heiliger Hain“ übersetzt, aber im estnischen Volksglauben bzw. Neuheidentum kann ein hiis auch ein einzelner Baum, ein Fels, ein Fluss, ein Bach, ein Berg oder eine Quelle sein.

  • Als Arbuse (estnisch arbuus, russisch aрбуз) bezeichne auch ich inzwischen oft eine Wassermelone, weil es einfacher auszusprechen ist.

  • Du machst mein Bett schokoladig wäre doch eigentlich viel einfacher als „Du verschmierst mein Bett mit Schokolade“.

Aus Estland importiert

  • Eine Memme nennt man in Deutsch einen Menschen, der „nichts“ verträgt. Zum Beispiel keine Kälte, keine körperliche Anstrengung, keinen Alkohol. (In Eupen nannten wir die nicht-alkoholischen Getränke auf einer Partu „Memmensäfte“). Ich vermute, dass Memme aus dem Estnischen importiert wurde, wo memm eine liebevolle Bezeichnung für eine alte Frau ist.

  • Mit pisselig meint man im Ruhrgebiet „klein“, „mickrig“ oder „wertlos“. In Estnisch bedeutet pisike einfach „klein“, pisiasi ist eine „unwichtige Sache“.

Lustiges Deutsch aus Kindermund

  • Geh davor weg statt „Geh weg“ (von Mine eest ära)

  • Heute blieb das Training ab statt „Heute fiel das Training aus“ (von Täna jäi trenn ära)

  • Das kommt schön und Das ist schön gekommen statt „Das wird schön“ und „Das ist schön geworden“ (von See tuleb ilusti)

  • Ob die Fotos rausgekommen sind statt „Ob die Fotos etwas geworden sind“ (von Kas fotod tulid välja)

  • Der Film ist durch statt „Der Film ist aus“ (von Film sai läbi)

  • Er ging zum Werwolf statt „Er wurde zum Werwolf“ (von Ta käis libahundiks)

  • Morgenessen statt „Frühstück“ (von hommikusöök)

  • Schachtel statt Schublade (von sahtel)

  • Meine Hände waren mit Honig zusammen statt „Ich hatte Honig an den Händen“ (von Mu käed olid meega koos)

  • Ich bin eingeschlafen statt „Ich habe verschlafen“ (von ma magasin sisse*)

  • Ich halte Geld zusammen statt „Ich spare Geld“ (von ma hoian raha kokku)

  • Stöpsel statt „Steckdose“ (von stepsel). Beispiel: „Ich brauche keine Verlängerungsschnur, ich habe sehr viele Stöpsel in der Wohnung.“

  • Mein Telefon ist zusammengefahren statt „Mein Telefon ist abgestürzt“ (von jooksis kokku)

  • Ich muss von Zuhause durch statt „Ich muss Zuhause vorbei gehen“ (von ma pean kodust läbi minema)

  • Das Haus war solche Skulpturen voll statt „das Haus war voller solcher (voll mit solchen) Skulpturen“ (von maja oli sellistest skulptuuridest täis)

  • An der Haltestelle Männi runtergehen statt „aussteigen“ (von bussist välja astuma)

  • Werde ich das jetzt ausdrehen? statt „Kriege ich das jetzt gedreht?“ (von „Kas ma pööran välja?“). Mari am Autosteuer beim Einparken, 12.10.2024

  • Ich kann das unterm Ofen verbrennen statt „Ich kann das im Ofen verbrennen“ (von „pliidi all“)

Falsche Freunde

  • Palju õnne heißt nicht „viel Glück“, sondern „Herzlichen Glückwunsch“.

Unbewusste Anpassung

Im April 2022 hatte ein Freund in einem meiner Texte (Meine Familie) das Wort „kuramieren“ gelesen und fragte, was es bedeute. Ich erklärte ihm:

kuramieren

Eine öffentlich sichtbare Paarbeziehung unterhalten, die noch nicht definitiv ist.

Ich hätte fast geschworen, dass ich das Wort von meiner Mutter hatte. Aber die bestätigte, dass sie damit nichts anfangen könne. In Estnisch dagegen wird es benutzt, und Ly bestätigte dies. Also offenbar hatte das Wort „kuramieren“ sich unbemerkt während der letzten 20 Jahre in meinen persönlichen Wortschatz eingeschlichen, und offenbar haben wir Menschen (oder zumindest ich) keine wirklich zuverlässiges Gedächtnis dafür, was wir wann und wo gelernt haben.