The dirty and the holy Mary¶
Freitag, 14. November 2025
Vorigen Sonntag erzählte die Pastorin in Vigala in ihrer Predigt zum Vatertag von einer Frau, die noch im Rentenalter Kraft schöpfte aus einem Gebet, das ihr Vater ihr als Kind beigebracht hatte. Ich hatte dabei eher resigniert gedacht „Tja, so ein Strebervater war ich nicht, ich hatte weder die nötige Selbstdisziplin noch die Autorität, um meinen Kindern religiöse Formeln beizubringen.“
Dass mein Gedächtnis unzuverlässig ist, merkte ich gestern Nachmittag, als Mari mich anrief und mir ein paar Fragen zum Rosenkranz stellte. Stimmt, den hatte ich gelegentlich mit den Kindern gebetet, vor langer Zeit, als wir noch in Vigala lebten! Und jetzt baut Mari für ein Schulprojekt eine Art Schallschutzkabine, in der man beruhigende Musik aus Lautsprechern hören kann. Und als sie überlegte, welche Musik sie bei der Vorführung auflegen würde, fiel ihr nichts Besseres ein als der Rosenkranz.
Ich muss hier hinzufügen, dass Mari vor einigen Wochen in der estnischen Künstlerzeitung „Müürileht“ namentlich erwähnt wurde und somit jetzt sozusagen in ganz Estland bekannt ist. Allerdings nicht bei den Katholiken, sondern in der LGBTQ-Szene als Drag-Darsteller mit Künstlernamen „Dirty Mary“. Falls ihr es nicht wisst (ich zum Beispiel wusste es bis vor kurzem nicht), eine Drag-Show ist eine Form der Unterhaltung für Erwachsene, bei der Geschlechtsmerkmale burlesk übertrieben dargestellt werden. Dieser Genre ist insbesondere im LGBTQ-Milieu beliebt.
Also Maris Lehrer und Kommilitonen können demnächst mit eigenen Ohren hören, wie Dirty Mary zur Holy Mary betet.
Und das in einem Land, wo „katholisch“ quasi synonym für „traditionalistisch“ ist. Ich erinnere daran, dass im Juni 2023 nur 86 Esten mein Manifest unterschrieben haben, in dem ich schrieb „Homosexuelle Menschen werden auch heute noch in vielen Kulturen marginalisiert. Wir betrachten das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen als marginalisierend. Christen sollten zu den Ersten gehören, die bereit sind, historische Irrtümer aufzugeben.“ Dieses Manifest war meine Reaktion auf einen offenen Brief der christlichen Führer Estlands, in dem diese sich gemeinsam gegen die geplante Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen aussprachen (Originalfassung siehe hier).
In Paris fand derweil voriges Wochenende der Congrès Mission statt. Scheinbar sind dort immerhin 30.000 französischsprachige Katholiken zusammengekommen. Ich vermute, das ist so etwas wie der Katholikentag im deutschsprachigen Raum. Aleteia hatte das Großevent angekündigt mit Pour 2025, le Congrès Mission s’offre l’Accor Arena de Bercy. Ich selber habe erst gestern und aus einer ganz anderen Quelle davon erfahren: über einen Artikel im Canard enchaîné, der lautete Quand les cathos bourrent l’Accor Arena. Erwartungsgemäß lässt der Autor Emmanuel Savoye keine Gelegenheit aus, den Katholiken eins auszuwischen. Wie es wirklich war, davon kannst du dir auf KTO selber ein Bild machen, ich habe allerdings nach einigen Minuten abgeschaltet, ich reagiere –vermutlich wie Savoye– eher allergisch auf Neue Lobpreis- und Anbetungskultur.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ sagt Jesus, deshalb ist mir eine Kirche zuwider, die machtvoll tut oder Macht anstrebt. Deshalb feiere ich die Sonntagsmesse hier in Tallinn lieber mit einer Handvoll Leuten im Dominkanerkloster als mit lateinischen Gesängen in der weihrauchgeschwängerten Kathedrale.