Die Kirche und ich¶
Begonnen am 28. August und zuletzt bearbeitet am 19. November 2024.
Mehr als 20 Jahre lang habe ich mich mit ganzem Herzen für die katholische und lutherische Kirche in Estland eingesetzt. Aber seit Anfang März 2024 (sh. Immer mit der Ruhe) versuche ich, meine Zeit nicht mehr mit „unnützen“ Aktivitäten zu vergeuden.
Und ob eine Aktivität nützlich ist, erkenne ich daran, ob jemand meine Arbeit wertschätzt. Zwischenmenschliche Dankbarkeit erfahre ich oft und bin dafür dankbar, aber damit kann ich keine Familie ernähren. Ich habe nun mal Softwareentwicklung und nicht Theologie gelernt. Folglich muss ich Gott loben, indem ich Software schreibe und nicht, indem ich andere Leute zum Gebet aufrufe. Letzteres ist Aufgabe der Profis, und die Profis wollen nicht, dass Amateure ihnen ins Handwerk pfuschen. Bitteschön, dann macht euer Handwerk ohne mich.
„Wieso gehst du dann noch zur Messe? Gott hat das doch nicht nötig,“ sagt Ly mir. Ja, Gott hat mich nicht nötig, aber ich ihn. Die Sonntagsmesse ist das Minimumprogramm der Kirche, und das will ich mitmachen. Das ist meine persönliche nonverbale Kundgebung, dass ich weiterhin an die ideale Kirche glaube. Ich glaube sogar noch etwas konkreter, dass die Römisch-Katholische Kirche am nächsten dran ist an diesem Ideal. Trotz aller durchaus berechtigter Kritik.
Diese ideale („heilige“) Kirche ist die weltweite Gemeinschaft aller Menschen, die der Frohen Botschaft vom Reich Gottes folgen. Und die Texte der Bibel sind nun mal meines Wissens die einzige Methode, dieses Evangelium in Menschenworte zu fassen. Kein Mensch kann die Bibel ganz verstehen, aber wer es nicht wenigstens versucht, der steht in deinem Leben da wie ein Analphabet mit einem Liebesbrief.
Ich sage also weiterhin „Ja zur Kirche“. Unsere Kirche hat freilich einige Bugs, die behoben werden sollten. Ich halte folgende Änderungen für längst überfällig:
Unterscheidung der drei Ämter „Priester“, „Apostel“ und „Seelsorger“. Apostel sind die leitenden Entscheidungsträger („Hirten“) und die einzigen, die unverheiratet und kinderlos sein müssen („Zölibat“). Priester leiten Gottesdienste, Messen und andere Gebetsversammlungen. Seelsorger hören die Beichte und erteilen Absolution.
Gleichberechtigung der Frau. Alle Ämter können unabhängig des Geschlechts wahrgenommen werden.
Offenlegung der Kirchenlehren. Die Gesamtheit der kirchlichen Lehren muss wie freie Software entwickelt, veröffentlicht und gewartet werden. Mit den gleichen Werkzeugen und Methoden, die bei der Entwicklung freier Software verwendet werden. Versionskontrolle, öffentliche Diskussion und Historie.
Die Behebung dieser Bugs ist zwingend nötig, weil sie die Kirche bei der Erfüllung ihrer Aufgabe behindern. Und sie ist nicht nur zwingend sondern auch dringend nötig. Weil die Menschheit dabei ist, mit voller Wucht gegen die Wand zu fahren. Demokratieverfall, Versklavung, Kriege, Umweltverschmutzung, Klimawandel, …
Aber offenbar hat Gott andere Auffassung von Zeit und offenbar werde ich diese Änderungen nicht mehr als Lebender sehen. Auch gut. Der Sinn des Lebens besteht darin, Gott zu loben und Zeugnis für das Evangelium abzulegen, so zumindest meine persönliche Formulierung. Bisher glaubte ich, dass die vielen sichtbaren kirchlichen Institutionen irgendwie Teil der Kirche sein müssen, auch wenn ich nicht immer mit allen Details einverstanden bin. Aber ich bin skeptischer geworden. Nicht in allem, wo „Kirche“ drauf steht, ist auch Kirche drin. Nicht jeder, der „Herr Jesus“ ruft, tut auch den Willen Gottes. Man erkennt einen Baum an seinen Früchten. Die Früchte einer kirchlichen Institution sind das, was sie in der Öffentlichkeit sagt und zeigt.
Die oberste Aufgabe der Kirche ist es, allen Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden. An dieser Aufgabe versagt die Kirche in modernen Kulturen momentan fast völlig. Weil sie dort nicht mehr erst genommen wird. Leute mit gesundem Menschenverstand können die Kirche nicht mehr ernst nehmen, weil sie stellenweise Unsinn redet. Die Kirche muss lernen, klare Distanzierung von Irrlehren und klare Stellungnahmen in heißen Themen zu erarbeiten. Beispiele von modernen Irrlehren (aber das ist jetzt nur meine momentane Meinung): Dass ein Papst vermeidbar sei, dass die Bibel als Gesetzbuch verstanden werden dürfe, dass Priester außergewöhnliche Menschen seien, oder dass Homosexualität Sünde sei.
Aber lassen wir das. Ich bin des Redens müde.