Bezeichnet Franziskus Homosexualität als Sünde?

Samstag, 1. Juli 2023

Ojemine! Mein Freund Lennart Käämer hat in der estnisch-katholischen Webzeitschrift „Kolleegium“ einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Papst Franziskus‘ Standpunkte über Gender-Ideologie, Homosexualität und Ehe“. Unter Anderem zitiert er darin den Papst bei einem Interview mit Associated Press am 24. Januar 2023 vor seiner Reise nach Afrika[1]:

Das Kirchenoberhaupt betonte, dass „Gott alle seine Kinder so liebt, wie sie sind“ und forderte die Bischöfe auf, LGBTQ-Menschen in der Kirche willkommen zu heißen. Natürlich billigte Franziskus damit nicht die Homosexualität, wie manche Kritiker ihm voreilig, aber fälschlicherweise zu unterstellen versuchten. Die Position des Papstes in dieser Frage ist klar: „Homosexualität ist kein Verbrechen. Ja. Aber es ist Sünde.“ „Zuallererst unterscheiden wir zwischen Sünde und Verbrechen“, sagte er im selben Interview und fügte hinzu: „Es ist auch Sünde, wenn die Liebe füreinander fehlt.“ – kolleeegium.ee

Oho? Papst Franziskus soll gesagt haben, dass Homosexualität Sünde sei?! Das ist aber mal was ganz Neues! Das will ich jetzt genauer wissen.

Zum Vergleich hier die Wiedergabe der gleichen Papstworte in Vatican News:

Homosexualität, sagte der Papst auf die entsprechende Frage, sei „kein Verbrechen“, sondern „ein menschlicher Zustand“. Zu den Rechten der LGBT-Gemeinschaft: „Wir sind alle Kinder Gottes und Gott will uns so, wie wir sind, und mit der Kraft, dass jeder von uns für seine Würde kämpft.“ Es gelte zwischen Sünde und Verbrechen zu unterscheiden. Sünde sei es auch, die Nächstenliebe zu vernachlässigen. Franziskus kritisierte in diesem Zusammenhang eine staatliche Kriminalisierung von Homosexuellen als „ungerecht“. – vaticannews.va

Also in den Vatican News wird nicht erwähnt, dass er es sagt… wie seltsam! ;-)

Und hier wie der Guardian ihn zusammenfasst:

“Being homosexual isn’t a crime,” Francis said on Tuesday in an interview. Francis acknowledged that Catholic bishops in some parts of the world support laws that criminalise homosexuality or discriminate against LGBTQ+ people, and he himself referred to the issue in terms of „sin“. But he attributed such attitudes to cultural backgrounds and said bishops in particular need to undergo a process of change to recognise the dignity of everyone. – theguardian.com

Ich vermute, dass Lennarts Zitat auf einer noch ganz anderen Quelle beruht als den hier erwähnten. In der Tat, auf meine Anfrage hin hat er mir seine Quelle genannt. Und er hat sie korrekt übersetzt, denn der englische Originaltext war:

On Tuesday, Francis said there needed to be a distinction between a crime and a sin with regard to homosexuality. “Being homosexual is not a crime,” he said. “It’s not a crime. Yes, but it’s a sin. Fine, but first let’s distinguish between a sin and a crime.” – Al Jazeera

Dass Lennart da eine höchst fragwürdige Quelle angezapft hatte (Al Jazeera controversies and criticism), ist ihm womöglich gar nicht bewusst gewesen.

Es könnte schon sein, dass dem Papst bei dem Interview ein Lapsus passiert ist. In der Tat präzisierte er kurz danach in einem Brief an Pater James Martin, er habe mit „Homosexualität“ nicht Homosexualität an sich gemeint, sondern homosexuelle Akte. Diesen Artikel hatte Lennart wahrscheinlich auch nicht gelesen. Kann ja jedem passieren.

Rein journalistisch betrachtet war Lennarts Artikel nicht sehr sorgfältig recherchiert. „Stümperarbeit“ könnte man auch provokativ sagen. Aber Lennart ist kein Stümper, sondern ein professioneller Journalist. Ich beschuldige nicht ihn, sondern die estnisch-katholische Kirche, die auch im Jahre 2023 noch mindestens eine veraltete Irrlehre fördert und wünscht. Nämlich die, dass Homosexualität Sünde sei.

Das alles bestätigt mir, was ich schon in Zeichen setzen statt diskutieren schrieb: Ich muss mich resolut distanzieren von der estnisch-katholischen Kirche, in der sogar ein professioneller Journalist verführt wird, Papstworte verdreht zu zitieren. Eine Organisation, die so etwas fördert, ist nicht meine Kirche. Da darf ich nicht mitmachen. Da werde ich erst wieder mitmachen dürfen, wenn der Bischof seinen eigenen Fehler öffentlich bekennt. Ich fürchte, dass das nicht so schnell passieren wird.

Also wenn ich in zehn Tagen nach Estland zurück ziehe, beginnt für meinen Glauben wieder das Wüstenleben.

Fußnoten