Zeichen setzen statt diskutieren

Dienstag, 13. Juni 2023

Oh mein Gott! Die „Kirchenführer Estlands“ haben sich zusammengesetzt und protestieren lautstark gegen das Recht auf Ehe für alle. Sie nennen ihr Manifest „Hirtenbrief zum Schutz der Ehe“ und beginnen mit den scheinheiligen Worten „Alle in Estland tätigen christlichen Kirchen, die dem Rat der estnischen Kirchen angehören, vertreten eine ganzheitliche Lebensauffassung, in der Harmonie zwischen dem glücklichen Leben jedes Einzelnen und der Vitalität einer ganzen Nation herrscht“. Und dann geht es los: „Als Christen glauben wir, dass diese Harmonie durch eine biblische Sicht auf Ehe, Kinder und Familie gewährleistet wird“, um nach einer Reihe altbekannter Argumente zur eigentlichen altbekannten Aussage zu kommen: „Basierend auf unserem Glauben sind wir davon überzeugt, dass sich das Zusammenleben zwischen Personen des gleichen Geschlechts von Natur aus von der Ehe eines Mannes und einer Frau unterscheidet. Daher stimmen wir keinem Versuch zu, die rechtliche und materielle Bedeutung der Ehe zu verwischen oder zu verletzen als Vereinigung eines Mannes und einer Frau durch Änderung der bestehenden Gesetze.“ (Quelle)

Oh mein Gott! Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Aber ich weiß jetzt, was ich tun werde, wenn ich nach Estland zurück ziehe. Mein Maß ist voll. Eine Kirche, die so redet, ist nicht meine Kirche. Die Frage nach dem Recht auf Ehe für alle mache ich zu meinem Lackmustest, zum Prüfstein. Gerade die Kirche muss dieses Recht heute in der ganzen Welt unterstützen. Gerade die Kirche muss gegen Homophobie eintreten. An ihren Früchten erkennt ihr sie.

Und ich werde nicht mehr darüber streiten, ich werde Zeichen setzen: Ich werde in Zukunft in Estland eine Kirche nur noch mit einem Regenbogenarmband oder sonstwie klar erkennbaren Symbol betreten, das meine Position in dieser Frage zeigt. Und an Eucharistie (aka Abendmahl) werde ich in Estland nur teilnehmen, wenn der Zelebrant für das Recht auf Ehe für alle eintritt. Ein paar davon gibt es ja glücklicherweise sogar in Estland (Annika Laats, Jaan Lahe, Imbi Arro, Triin Käpp, …). Und solange Philippe Jourdan mit den anderen mitläuft statt katholische Größe zu zeigen, betrachte ich seine Herde als häretisch.

Bemerkung

Meine Vorwürfe gehen an Institutionen, nicht an Menschen. Jeder Mensch hat seine persönliche Geschichte und daraus resultierende Überzeugungen, die ich respektieren will und kann. Also falls Du ein Problem mit gleichgeschlchtlichen Ehen hast, betrachte Dich bitte trotzdem und gerade deshalb weiterhin als meinen Freund. Du darfst gerne darüber schmunzeln, dass mir just dieses Thema so wichtig scheint. Bleibe gerne bei Deiner anderen Meinung solange Du daran glaubst, denn –wer weiß!– vielleicht bin ich es ja, der sich irrt und vielleicht bist dann gerade Du es, der mich zur Erkenntnis der Wahrheit bringt.

Feedback

Kaum hatte ich obenstehenden Blogeintrag formuliert, las ich von dem Angriff auf den finnischen Pastor Patrick Tiainen der vor zwei Tagen in Tallinn nach einer Rede auf der PRIDE von einem selbsternannten Gotteskämpfer angegriffen wurde: „I was speaking today at Bar X in Tallinn at the final day of Baltic Pride. I had just said how sorry I am for all the pain caused to minorities in the name of God when a young man entered, asking for the gay pastor. He carried a knife, and caused minor wounds on me and my friend as we tried to protect ourselves. Several bones in my face are broken. Thank you to those who were present and bravely put this man to the ground as he shouted about God’s revenge. Thank you to the police, EMS and personnel at the hospital. We will never let hate win. ❤️ (Quelle: err.ee).

(2023-06-14) Ein Freund fragte, was mich eigentlich so ärgert und ob es etwa der allgemeine Ärger über „die Anderen“ sei. Ich antworte: Ein Hirte muss sich hüten, Stellung in kontroversen Fragen zu beziehen. Und genau dies tun Urmas und Philippe. Dass ihre Meinung hier das Gegenteil von meiner eigenen ist, ärgert mich nicht. Was mich ärgert, ist ihre unterschwellige Behauptung, dass ihre Meinung eine „biblische“ und „folglich richtig“ sei. Das ist Bibelvergötterung, das ist pharisäerisch, das ärgert mich. Freilich muss ich mich fragen, ob mein Ärger es wert ist, ihn so laut raus zu lassen. Ich hätte das alles ja stattdessen in mein Tagebuch schreiben können und meine Vorsätze einfach stillschweigend einhalten, also „in Estland eine Kirche nur noch mit einem Regenbogenarmband betreten“ und „an Eucharistie nur teilnehmen“, wenn der Zelebrant mir passt. Wozu also ein öffentliches Bekenntnis? Das frage ich mich selber. Das könnte Hochmut sein, nach dem Motto, dass ich was Wichtiges zu sagen hätte. Es könnte auch Liebe zur Kirche sein: wenn ich fühle, dass ein Kirchenvertreter der Kirche schadet, indem er solchen Unsinn redet, dann fühle mich verpflichtet, einzugreifen.

(2023-06-14) Eine Gruppe von 59 „gebildeten Leuten“ hatte in einem offenen Brief ans Parlament geschrieben, dass sie gegen die Änderungsvorschläge seien. Einige Tage später hatten 600 ebenfalls „gebildete“ Leute einen Gegenbrief unterschrieben. Marju Lauristin erklärt in den Fernsehnachrichten, wie just dieser offene Brief sie dazu bewegt hatte, das Gegenteil zu unterschreiben. (Quelle: err.ee) Es freut und beruhigt mich zu lesen, dass ich gar nicht nötig bin.