Ende eines paradiesischen Sommers¶
Donnerstag, 1. September 2022
Hallo Freunde,
heute kommt unsere Mari in Brüssel an, gestern noch hat sie in Turin das berühmte Grabtuch fotografiert, vorgestern hat sie vor Cinque Terre ihre ersten Erfahrungen im Apnoetauchen gesammelt, vorige Woche hatte sie ihren letzten Arbeitstag in Passignano sul Trasimeno absolviert. Schon morgen will sie von Brüssel weiter nach Eupen fahren.
Ebenfalls heute fängt für Iiris in Tallinn die Schule wieder an, zunächst ganz langsam und feierlich mit der obligatorischen Feier zum Schulbeginn, bei der scheinbar die wichtigste Frage ist, welche Kleider man anziehen soll bzw. welche nicht. Nach diesem „Aktus“ müssen scheinbar alle Esten irgendwo feierlich essen, und zwar im engsten Familienkreis. Auch Iiris und ich müssen uns an diese Etikette halten, weil sonst unser Haussegen in Gefahr geriete. Iiris durfte immerhin das Restaurant auswählen, d.h. wir gehen Pizza essen. Und sie hat zum Glück eine ausländische Klassenkameradin. Deren Vater meinte gestern auf meine Anfrage hin, dass sie nichts dergleichen geplant hätten, und so habe ich das Mädchen mit zu uns ins Restaurant eingeladen. So ist Iiris wenigstens nicht alleine mit ihren Eltern.
Gestern hatte Iirisens Klassenlehrer uns zu einer ersten Elternversammlung zusammengetrommelt. Ein Deutscher, der erst seit drei Jahren in Estland lebt. Er fand, dass die Klasse viel zu diszipliniert sei. Wenn er den Klassenraum betrete, dann warten die Schüler quasi schon auf den Beginn des Unterrichts. „Ja, so sind wir Esten nun mal“ kam als Bemerkung einer Mutter. Das allein verbuche ich schon als einen kleinen Erfolg: er hatte also nicht gegen eine Wand geredet, sondern bekam Echo. Seine eigentliche Sorge liegt natürlich tiefer: zwischen den Stunden fangen die Schüler gar nicht erst an, über irgendwelche Themen zu diskutieren, sondern wandeln mit dem Smartphone in der Hand durch die Flure zur nächsten Klasse. Ich persönlich finde ja sogar, dass die Benutzung von Smartphones und Internet per Gesetz geregelt werden müsste, ähnlich wie die von Drogen: unter 18 einfach totales Verbot. Iirisens Klassenlehrer hat jedoch realistischere Ideen, um das Problem anzugehen. Trotz meiner unrealistischen Ideen bin ich zur Kontaktperson der Eltern ernannt worden. Weil ich der einzige Kandidat war. Mit Mühe und Not haben wir mir eine Partnerin ernannt. Wir beide haben fortan die ehrenvolle Aufgabe, den Kontakt der Eltern zur Schule zu animieren. Was das konkret bedeutet, ist wahrscheinlich niemandem klar.
Im Juli war Ly einen ganzen Monat lang als ehrenamtliche Helferin auf einem internationalen Keramiker-Treffen. Sie hat viel gelernt und viele Kontakte geknüpft. Zum Beispiel hat Callum Trudgeon aus Cornwall ihr eine Technik aus Japan gezeigt, wie man vertrocknete Lehmreste ganz ohne Knetmaschine wieder zu neuem Lehm knetet. Sie war richtig in ihrem Element. Und am Ende hat sie ein außerordentliches Lob bekommen, nämlich „works with insane determination“. Ja, so kenne ich sie!
Der August in Estland war paradiesisch. Wir haben den Klimawandel genossen. Eine Zeitlang sind Ly und ich jeden Abend schwimmen gefahren. Wir fuhren dann mit dem Fahrrad zum Opferhiis, zogen uns nackig aus, sprangen in die Vigala und schwammen ganz schamlos über die Stelle, wo sich winters das Eisrad dreht.
Iiris genoss das alles weniger. Sie verbrachte diesen Sommer viel Zeit mit ihrem Smartphone im Bett, was mir dann die eingangs erwähnten Sorgen bereitet. Einige Tage durfte sie auch alleine in Tallinn bleiben. Anschließend habe ich mich geärgert, weil sie keinmal gespült hatte. Aber am meisten macht mir Sorgen, dass sie keine Lust mehr hat, mit mir zu erzählen. Was ja kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass ich als verantwortungsbewusster Vater ihr stets neu erklären zu müssen glaube, was ich über ihre Verhaltensweisen denke.
Wenn ich mir Sorgen um andere mache oder mich über sie ärgere, erinnert Ly mich immer daran, dass ich ja im Grunde auch nicht besser bin – wenn auch in anderen Bereichen.
Einmal ist mir auch ohne Lys Hilfe klar geworden, was ich doch für ein Arschloch sein kann. Ich war auf einem Wochenende zusammen mit knapp 20 anderen Leuten. Einmal beim Abendessen hatte sich ein junger Mann neben mir seinen Teller auffallend hoch angehäuft. „Na hoffentlich hat er sich nicht übernommen“ dachte ich mir, denn es gab Aalsuppe, und ich selber hatte mir vorsichtigerweise nur ganz wenig genommen, denn Aal gilt zwar als Delikatesse, ist aber nicht gerade mein Ding. Ich meinte scherzhaft zu ihm „Dass du das alles aber auch aufisst, sonst gibt es keinen Dessert!“ Und ich weiß nicht genau, welcher Teufel mich ritt, aber als eine weitere Gruppe von Teilnehmern zum Essen kam und die Aalsuppe skeptisch kommentierte, rief ich durch den Raum „Macht es lieber nicht wie unser Freund hier!“ Das war insofern vollkommen daneben, weil besagter Freund inzwischen schon festgestellt hatte, dass diese „weichen und geschmackslosen“ Fleischklumpen ihm tatsächlich gar nicht so gut schmeckten wie sie aussahen. Das Missgeschick eines anderen lustig zu finden ist offenbar ein flagranter Mangel an Taktgefühl.
Seit diesem Erlebnis grüble ich wieder häufiger darüber nach, weshalb ich so ein Spötter bin, ob ich das ändern müsste und wenn ja, wie. Ich suche nach Beispielen für Missgeschicke, die mir selber peinlich wären und die ein anderer lustig fände und weiter erzählte. Also wo ich selber darunter litte, weil ein anderer mir das antut, was ich anderen antue. Aber ich finde keine. Mein Problem ist sozusagen, dass ich kein Problem darin sehe, kritisiert zu werden. Ich vermute, dass ich mit einer Art von unverwüstlichem Stehaufmännchen-Selbstvertrauen gesegnet bin. Bei Missgeschicken finde ich, dass Humor die beste Medizin ist. Ob das immer ein Segen ist, ist, gar nicht so sicher. Wenn du über die falschen Leuten spottest, kann dich das teuer zu stehen kommen. Denkt zum Beispiel an den Anschlag auf Charlie Hebdo vor sieben Jahren. Oder dass Frère Roger vor 17 Jahren ermordet worden ist, könnte einen recht ähnlichen Grund haben. Hoffen wir, dass ich trotz allem eines natürlichen Todes sterbe.
Habt ihr es bemerkt? Statt über unser Familienleben zu berichten, bin ich schon wieder unbemerkt zu meinem Lieblingsthema gewechselt, nämlich mir selber. In diesem Rundbrief demonstriere ich gleich zwei Hauptsymptome einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung: Selbstverliebtheit und Empathielosigkeit. Zumindest laut gängigen Ratgebern wie zum Beispiel diesem hier. Und selbst solch existenzielle Vorwürfe stecke ich mit einem beratungsresistenten Lächeln ein und erzähle sie sogar noch weiter.
Oh Je! Und ihr Armen müsst solche Selbstbetrachtungen auch noch lesen! Und auch diesmal war es wieder nur ein winziges Fragment der eigentlichen Wahrheit über uns. Aber ich bitte um mildernde Umstände und hoffe, dass sich in ein paarhundert Jahren vielleicht mal ein Digitalarchäologe drüber freut.
En attendant senden wir herzliche Grüße und wünschen allen Betroffenen einen gesegneten Start ins nächste Schuljahr.
Ly und Luc