Weihnachtsfreude

Dienstag, 24. Dezember 2019

Hallo Freunde,

wir wünschen euch viel Freude in den kommenden Tagen, viele echte bereichernde Begegnungen mit anderen Menschen, und viel Hoffnung als Antwort auf eure Sorgen und Misserfolge.

Hier in Estland hat sich ja ein christlicher Name für Weihnachten nie durchgesetzt; selbst die Christen sagen „Jõulud“, also „Julfest“, wenn sie über Weihnachten reden. Esten können empört reagieren, wenn man christliche „Propaganda“ macht und „ihr“ Julfest mit importierten Wertvorstellungen zu unterwandern versucht. Viel stärker als in Belgien wird Weihnachten hier oft verbunden mit Tradition und dem Gedenken an die Verstorbenen.

Aber dass es ein Fest der Freude ist, darüber sind sich alle einig.

Wie lange wohl wissen die Menschen schon, dass es einen Tag im Jahr gibt, ab dem die Dunkelheit wieder abnimmt, die Tage wieder länger werden? Sicherlich war die Wintersonnenwende schon vor Jesu Geburt bekannt und wurde entsprechend gefeiert, zum Beispiel als Geburtstag der Sonne. Jesu Geburtstag wurde daraus erst viel später und nicht ohne kulturelle Kämpfe. Der Brauch der Bescherung der Kinder zu Weihnachten kam noch später, der wurde um 1535 von Martin Luther als Alternative zu der Sitte des Gabengebens am Nikolaustag ins Leben gerufen, um so das Interesse der Kinder auf das Fest der Geburt Christi zu lenken. In katholischen Familien fand die Bescherung der Kinder weiterhin lange Zeit am Nikolaustag statt (das habe ich aus der Wikipedia). So gesehen sind Wallonen katholischer als Ostbelgier.

Den Ausdruck „kulturelle Kämpfe“ im vorigen Absatz finde ich eigentlich veraltet. Es ist doch natürlich, dass Spannungen entstehen, wenn Menschen in ein neues Territorium umziehen. Natürlich bringen sie ihre Kultur mit und halten an eingeprägten Wertvorstellungen fest bis an ihre Lebensende, geben sie teilweise auch weiter an ihre Kinder. Das ist wie wenn du Salz oder Öl mit Wasser vermischst. Das Salz löst sich widerstandslos und sogar gerne auf, das Öl dagegen kriegst du selbst durch kräftiges Schütteln bestenfalls zu Dispersion überredet. Niemand ist ganz Salz oder ganz Öl. Hier in Estland betreten selbst ganz ölige Ungläubige immerhin einmal im Jahr, nämlich heute Abend, eine Kirche, um sich ihre Portion „Weihnachtsgefühl“ (jõulutunne) abzuholen. Also wenn du in den kommenden Tagen die Vinaigrette auf den Salat tust und dabei an uns hier in Estland oder an die Einwanderer in deiner Nachbarschaft denkst, dann hat sich meine Gedankenspielerei über kulturelle Kämpfe schon gelohnt.

Das Wort „Ungläubige“ im vorigen Absatz (sowie seinen Gegensatz „Gläubige“) finde ich übrigens noch veralteter als „kulturelle Kämpfe“. Jeder Mensch glaubt doch. Der eine an dies, der andere an das. Die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen kommt aus einer Zeit, als es noch Leute gab, die glaubten, ihre Religion sei die einzig Wahre. Diese Zeit ist doch vorbei, oder? (Vorsicht, ich werde bissig…) Zumindest in Europa. Mag sein, dass hier und da eine Sekte noch so was lehrt… oder die Amerikaner scheinen etwas hinterher zu hinken. Aber auch dort fängt man an zu verstehen, fand ich, als ich neulich Keith Giles‘ Artikel The Inevitable Death of Evangelical Christianity las, oder als ich die Weihnachtsansprache von Bart Ehrman hörte.

Spätestens hier tritt Ly mir gewöhnlich unterm Tisch auf den Fuß, um meine Tiraden zu beenden. (Siehe auch Nachtrag zur Weihnachtsrede)

Falls ihr wissen wolltet, wie es uns geht: danke, gut. Vielleicht schaffen wir in den kommenden Tagen sogar noch eine ausführlichere Antwort… aber wir versprechen nichts, denn wir wollen uns die Feiertage ja nicht mit noch mehr Verpflichtungen verderben.

Liebe Grüße aus Vigala von

Iiris, Mari, Ly und Luc.