Vier Erkneraner in Vigala¶
Samstag, 26. Oktober 2019
Wieder einmal habe ich im Namen der Gemeinde Vigala eine Delegation von Freunden aus Erkner empfangen und begleiten dürfen: Carsten Schwarz, Karen Schubert und die beiden „Neuen“ Sven Schmidt und Frauke Fiedler waren von Dienstag bis Freitag bei uns.
Dienstag : Gegen 18.30 Uhr treffen sie ein, nach dreistündiger Autofahrt aus Riga im fast kratzerfreien Mietwagen. Diesmal sind sie alle vier im Hotel Heltan untergebracht. Diesen Ort hatten die Müllers schon getestet und für gut befunden. Das Hotel ist selbst jetzt, außerhalb der Saison, ausgebucht, so dass Sven und Carsten sich ein Zimmer teilen müssen. Solche kleinen Dorfhotels werden benutzt durch Baufirmen, die irgendwo in der Nähe einen Auftrag laufen haben und ihre Arbeiter dann hier übernachten lassen.
Ich zeige ihnen nur schnell die Zimmer und lass ihnen 15 Minuten zum „Nasepudern“, danach werden wir im Nachbarhaus bei Merike und Heino zum Abendessen mit Sauna erwartet. Die beiden sind zwar weder Gemeindemitglieder noch Christen, aber offen für gesellschaftliche und religiöse Gesprächsthemen. Heino sammelt Briefmarken, Münzen, Abzeichen und Uniformen von Militär und Polizei und kann aus eigener Erfahrung vom Verteidigungsbund und den Waldbrüdern erzählen. Für seine Sammlung kriegt er aus Erkner ein Originalpaket Atombrot aus der DDR-Zeit. Auch Aili Soonberg ist dabei, weil sie morgen für zwei Tage weg muss. Für sie ist dieser Abend die einzige Möglichkeit, den Erkneranern zu begegnen. Sowohl Gastgeber als auch Gäste bestätigten anschließend, dass das eine gelungene und bereichernde Begegnung war. Also wenn das nicht interkultureller Austausch ist, dann habe ich etwas verpasst! Die Idee dazu entstand übrigens durch ein Problem: unser Auto steht mit Motorschaden in einer Werkstatt in Tallinn, deshalb kam ich erst einen Tag und Ly erst einige Stunden vor den Erkneranern in Vigala an, und wir trauten uns nicht, für den ersten Abend in unser Haus einzuladen.
Mittwoch. Um 9.45 Uhr fahren wir die zehn Kilometer nach Kivi-Vigala, um von dort aus mit anderen Gemeindemitgliedern die Nachbargemeinde Pärnu-Jaagupi besuchen zu fahren. Wir hatten die ganze Gemeinde eingeladen, und außer unserer Pastorin sind immerhin noch zwei weitere dieser Einladung gefolgt (Heino Aossaar und Sirje Aiaots). Außerdem sind Iiris und Sofie mit dabei.
Die Pastorin Jane Vain (sprich [Janne], nicht [Dschejn]) ist erst im August als Praktikantin für die Pfarrerstelle von Pärnu-Jaagupi eingesetzt worden. Das ist ein kleines Wunder, weil in unserem Kirchenkreis noch recht traditionelle Ansichten herrschen über die Frage, ob eine Frau überhaupt als Pastorin fungieren darf. Die Verse 34 und 35 aus dem vierzehnten Kapitel des ersten Korintherbriefs kennt hier fast jeder.
Die Kirche von Pärnu-Jaagupi ist dem Heiligen Jakobus geweiht und hier finden die alljährlichen Sommertage der estnischen Jakobspilgerer statt. Ein „Perlenrundgang“ lädt zu einer Pilgerreise im Kleinformat ein (2,4 Kilometer). Diese Anlage entstand als Gemeinschaftsprojekt mit einigen jungen Männern, die auf der ehemaligen Müllhalde einen Disk-Golf-Parcours installiert haben. Jane erzählt uns das alles nicht nur, sondern lässt uns den Rundgang mit eigenen Sinnen erfahren. Das Gehen in meditativer Stille ist mir eine willkommene Pause in meiner Funktion als ständiger Dolmetscher.
Nach dem Rundgang steigen wir auf den Kirchturm, probieren die Orgel aus, besichtigen das Gemeindebüro und die Pfarrerwohnung. Das Mittagessen kriegen wir in einem Teil des historischen Pfarrhauses aufgetischt, der unter Initiative des vorletzten Pfarrers Urmas Viilma (der inzwischen Erzbischof ist) zu einem Restaurant umgebaut wurde, das bis heute funktioniert (Webseite).
Schon beim Mittagessen war ein Neuer zu unserer Gruppe gestoßen, der uns anschließend Einblick in sein Zuhause gewährt. Joel Roots ist vor Jahren von der Stadt aufs Land gezogen und hat mit seinem Sohn eine Holzwerkstatt Puidupoisid aufgebaut, in der er z.B. alte Kirchentüren fachmännisch restauriert. Auf seinem Hof steht unüberhörbar ein Zwinger mit vier Border Collies, die zur Zeit etwas arbeitslos sind, weil die Herde momentan nur ein Dutzend Schafe umfasst. Joels Frau Julika spinnt nicht nur, sondern sie restauriert Webstühle und gibt Kurse in Wollverarbeitung vom Scheren bis zum Endprodukt.
Dann geht es zurück nach Kivi-Vigala. Besichtigung der Kirche und des Friedhofs. Ab 17 Uhr Gesprächsbegegnung im Pfarrhaus mit den anderen Gemeindemitgliedern. Während Sirje hier leider nicht mehr dabei sein kann, kommen Juta und Katrin hinzu. Wir erinnern uns an Daten und Fakten zur Geschichte der Partnerschaft und werfen gemeinsam einen Blick in die Zukunft. Eigentlich wollten wir um 19 Uhr Schluss machen, damit unsere Gäste vor dem Schlafengehen auch mal was Zeit für sich haben, aber wenn Esten erstmal am Erzählen sind, dann kriegst du sie nicht so schnell wieder zum Schweigen.
Donnerstag. Um 9.30 Uhr Besichtigung der Nähwerkstatt Liisu Rõivad, die nur 100 Meter vom Hotel ihr Geschäftswesen treibt. Natalia als Chefin und Maie als Buchhalterin haben den Betrieb vor 26 Jahren gegründet. Momentan arbeiten 6 Näherinnen dort. In der Kaffeepause kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Zwei von ihnen erzählen aus der Zeit, wo ihre Kinder bei Kaido Soom in der Jugendgruppe waren.
Um 11 Uhr kriegen wir die Berufsschule von Vana-Vigala gezeigt, deren Motto lautet „Schule für alle“. Diese Schule war die erste in Estland, die vor Jahren integrativen Unterricht für Menschen mit einer geistigen Behinderung startete. Eine Idee, die ihr wahrscheinlich die Existenz gerettet hat in unserer stark von Landflucht heimgesuchten Gegend. Nach dem Mittagessen in der Mensa hielten wir mit einigen Schülern ein „Kaffeekränzchen“ im Gemeinschaftsraum des Wohnheims.
Abends war die Henkersmahlzeit für unsere Gäste. Die fand bei uns statt und im kleinen Kreis, deshalb brauchte ich nicht zu übersetzen. Für Ly war das quasi die erste Gelegenheit zur Begegnung (aber das ist sie selber schuld, sie hätte ja teilnehmen können am Besuchsprogramm).
Am nächsten Morgen um 7 Uhr fahren sie wieder los Richtung Riga. Ein Stück fahre ich mit ihnen, denn für mich geht das Leben nahtlos weiter: sie setzen mich bei Hugo an, mit dem ich heute eine Ladung Brennholz nach Tallinn in unsere neue Wohnung bringen werde.
Und schon ist der Besuch wieder vorbei! Alle Beteiligten fühlen sich bereichert und sind dankbar, dass so etwas möglich ist! Wie oft habe ich das jetzt schon gemacht? Für mich persönlich hat die Partnerschaft vor 11 Jahren begonnen, aber sie existierte ja schon lange vor mir. Jetzt habe ich begonnen, eine Zeittafel zusammen zu tragen: Vigala und Erkner.