Nachtrag zur Weihnachtsrede

Dienstag, 14. Januar 2020

Hallo Freunde,

erinnert ihr euch noch, wie Ly mir während meiner Weihnachtsansprache (Weihnachtsfreude) unterm Tisch auf den Fuß trat? Erst jetzt wird mir bewusst, wie Recht sie damit hatte: Der letzte Absatz über das Wort „Ungläubige“ war eine zu schnell geschossene Formulierung. Wenn mir das jemand erzählt hätte, hätte ich widersprochen: Nein, es ist nicht egal, woran man glaubt. Ein Gläubiger ist einer, der die Frohe Botschaft kapiert hat. Wer sie noch nicht kapiert hat, ist ungläubig. Und die einen von den anderen zu trennen, steht allein Gott zu.

Die Christenheit durchlebt zur Zeit eine weltweite Läuterung. Wenn ein Mann, den viele für einen Christen halten, einen anderen Menschen ermordet, weil dessen Überzeugungen ihm nicht passen, dann muss sich die Christenheit Fragen stellen. Das freut mich geradezu. Denn es wird sowieso in letzter Zeit spannend auf diesem Planeten. Ich finde es spannend, wenn Schulmädchen beschließen, nicht mehr zur Schule zu gehen, und dann vor der UNO angehört werden. Oder wenn es im Zweikampf der EU gegen Google zu Geldstrafen von 4 Milliarden Euro kommt. Wird Google in Zukunft auch entscheiden, wer leben darf und wer nicht? Sind wir dabei, zu Sklaven in einer weltweite Matrix zu werden? Also dass auch die Christenheit heftig durchgerüttelt wird, finde ich nur normal. Eine Religion taugt nichts, wenn ihre Lehren schon beim kleinsten Rütteln zerbrechen oder Angst vor einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung haben. Also diese Rüttelei hindert mich nicht daran, weiter an die Frohe Botschaft zu glauben, die Jesus den Menschen gebracht hat. Ich verstehe diese Botschaft so: „Eure Religionen und Glaubenslehren sind Menschenwerk. Glaubt nicht, ihr würdet dadurch nennenswert besser. Ihr habt nicht die geringste Chance, euch durch irgendwelche Leistungen den Himmel zu verdienen. Den Himmel kriegt ihr geschenkt. Gott rechnet eure „Sünden“ nicht an. Wer diese Frohe Botschaft kapiert und danach lebt, für den hat das Himmelreich schon jetzt begonnen. Und lasst gefälligst diejenigen in Ruhe, die nicht bei eurem Weltbild mitspielen.“ Wobei „kapiert“ nicht allzu wörtlich zu nehmen ist, denn wir können das eben nicht „verstehen“ oder „beweisen“, sondern wir können es nur „glauben“, d.h. akzeptieren, dass wir es nicht wissen und trotzdem so leben als ob es wahr wäre. Autsch, wer tritt mir da schon wieder auf den Fuß?

Seit September sind wir auch an den Wochenenden eher in Tallinn. Hier gibt es –verglichen mit Eupen– viele christliche Gemeinden. Da stellte sich die Frage, zu welcher wir gehören wollen. Einige Wochen lang habe ich versucht, die Kinder für die katholische Gemeinde zu begeistern und bin mit ihnen zu den Familienmessen gegangen. Aber das hat nicht geklappt, vor allem, weil Iiris dort keinen Anschluss fand. Und dann haben wir eine lutherische Gemeinde gefunden, in der auch Iiris sich wohlfühlt. Dort habe ich inzwischen schon eine Männerbibelgruppe begonnen.

Ebenfalls seit September bin ich in Tallinn wieder aktiv geworden für die Taizé-Gebete. Es gibt hier immerhin vier Gemeinden, in denen monatliche Gebete stattfinden. Also durchschnittlich einmal pro Woche. Der in Taizé entstandene musikalisch-meditative Gebetsstil liegt mir, weil ich mich dadurch selber zwinge, mal eine Stunde lang still zu sitzen und einem Bibeltext zuzuhören. Bei so einem Taizé-Gebet werden bewusst nur wenig Worte gemacht. Die Brüder in Taizé haben verstanden, wie schnell wir Menschen uns durch Nebensächliches vom eigentlich Wichtigen ablenken lassen.

Von der Bibel bin ich weiterhin fasziniert. Ich spüre oft, dass diese Texte vom Heiligen Geist inspiriert sind und mir helfen, die Welt besser zu verstehen. Nicht nur die ursprünglichen Autoren waren inspiriert, sondern auch die späteren Sortierer, die bis zur Kanonisierung viel Arbeit hatten, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Bibel ist ein unermesslich wertvolles Werkzeug für die gesamte Menschheit. Sie sollte zum Weltkulturerbe erklärt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Frohe Botschaft ohne die Bibel erklären könnte. „Wer diese leuchtende Wirklichkeit begreift, fragt sich unweigerlich: Wie kann ich anderen eine derart unumstößliche Hoffnung weitergeben?“. Diesen Satz aus Taizé las ich vorigen Freitag in der Heiliggeist-Kirche in Tallinn vor. Andererseits hat nicht jeder, der die Bibel liest, auch die Frohe Botschaft kapiert. Wir müssen immer wieder neue Worte finden, um das Wort Gottes zu verkünden. Ich bin allergischer geworden gegenüber einem falsch verstandenen Christentum, das sich wie die damaligen Pharisäer zum Hüter der Frohen Botschaft aufspielt und zu wissen glaubt, wer „dazugehört“ und wer nicht. Wenn ich jemanden sagen höre, die Bibel sei „das“ Wort Gottes (als hätte Gott keine anderen Kommunikationskanäle), oder „Gott selbst“ sei der „Autor“ der Bibel, dann gehe ich auf die Barrikaden. Solche Aussagen sind Bibelvergötterung. Mit solchen Aussagen machen diese Leute das Christentum lächerlich. Auf solche Aussagen kann ein gesunder Menschenverstand nur mit Spott reagieren. Die Szene mit der Sandalenvergötterung in „Das Leben des Brian“ trifft diesen Nagel auf den Kopf:

Hier in Estland ist man als Gläubiger solchem –berechtigten– Spott viel heftiger ausgesetzt als in Eupen. Deshalb suche ich immer wieder nach neuen Worten, um auch Ungläubigen die Frohe Botschaft zu erklären. Ich schreibe meine philosophieschen Betrachtungen aber neuerdings eher in Englisch auf einer eigenen Webseite names Human World, weil es mir zu viel Arbeit wurde, alles auch noch in Deutsch und Estnisch und Französisch zu schreiben. Diese Seiten sind mein privates Projekt und werden voraussichtlich bis an mein Lebensende nicht fertig werden. Eure Meinung dazu interessiert mich, aber ich kann ich auch verstehen, dass da nicht jeder unbedingt mitreden will.

All das ist im Grunde nix Neues. Und Ly macht sich manchmal schon Sorgen. Sie sagt „Du steigerst dich da zu sehr rein. Du bist doch jetzt schon über 50 und leidest unter akuter Schlaflosigkeit. Statt so viel zu beten solltest du mehr Sport machen oder Freunde besuchen gehen.“ Ich merke mir ihren Rat mal unter dem Motto: Mehr Lauftouren und Sauftouren.

Und jetzt aber Schluss für heute. Liebe Grüße aus Tallinn