Keine Panik

Mittwoch, 19. Dezember 2018.

Hallo Freunde,

wir sind kurz vor der Wintersonnenwende, den dunkelsten Tagen des Jahres. Hier in Estland ist das noch etwas spürbarer als in Ostbelgien. Und doch wissen wir, dass es bald wieder heller wird und der nächste Sommer bestimmt wieder kommt. So wie in der Natur ist es auch in der Menschenwelt. Da geschehen besorgniserregende Dinge und Entwicklungen, bei denen man sich schon mal machtlos fühlen kann und sich verzweifelt fragt, wo das alles hinführen soll. Aber auch hier rufen wir euch zu und erinnern euch daran: Keine Panik, wir wissen, dass es wieder heller wird!

In diesem Sinne wünschen wir euch Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch ins Jahr 2019, und senden liebe Grüße aus Vigala und Tallinn.

Iiris, Mari, Ly und Luc

Soweit unser diesjähriger Weihnachtsgruß. Wer keine Zeit hat, braucht nicht weiter zu lesen, der Rest ist sowieso nur noch Gedankenspielerei.

Uns geht es gut. Wir pendeln hin und her zwischen Tallinn und Vigala, meistens bleibt Ly bei den Kindern in der Stadt, während ich in Vigala das Haus heize und meine Frauen am Freitagabend vom Bus abhole. Manchmal braucht Ly eine Woche Ruhe, und dann kriegen die Kinder eben eine Woche mit Papa. Wir alle genießen das abwechslungsreiche Leben. Hier könnt ihr eine schlechte Videoaufnahme von Montagabend sehen, bei der Iiris im Schulchor singt (Iiris steht in der mittleren Reihe ganz links, man sieht sie anfangs kurz):

https://www.youtube.com/watch?v=pxa7b5_2p5E&feature=youtu.be

Meerschweinchen Tommy traut sich jetzt schon ganz allein aus seinem Käfig und darf sich in Iirisens Zimmer frei bewegen. Iiris hat sich eingefunden in ihr neues Leben als zukünftige Musikerin, Mari wird immer erwachsener, Ly und ich werden immer weiser und älter. Bald werde ich voraussichtlich eine Lesebrille und vielleicht sogar ein Hörgerät kriegen.

Ist euch aufgefallen, dass ich im Weihnachtsgruß zweimal das Wort „wissen“ benutzt habe? Wenn es um den Jahreszyklus geht, kann man noch von wissenschaftlich messbarem Wissen sprechen, weil diese Dinge seit Jahrtausenden durch astrologische Beobachtungen belegt sind. Beim zweiten Mal wird es komplizierter, denn selbst Google kann mit allem maschinellen Lernen nicht wirklich vorhersagen, wo wir uns befinden im Zyklus der menschlichen Zivilisationen und wann es wieder heller zu werden beginnt. Eigentlich hätte ich also beim zweiten Mal „glauben“ statt „wissen“ schreiben müssen. Aber im vorgangenen Jahr bin ich diesbezüglich scheinbar bescheidener geworden. Vieles glauben wir zu wissen, und wissen doch nur, dass wir nichts wissen.

Woher glaube ich dann zu wissen, dass es wieder heller wird?

Vorige Woche sangen wir Christus est natus ex Maria virgine in der Sauna beim Weihnachtsfest von Rello (dem Chor in Märjamaa, bei dem ich mitsinge). Zur akustischen Illustration könntet ihr hier eine Aufführung anhören (die allerdings vom technischen Niveau her nicht ganz bis zu unserem Saunagesang hinab reicht). Ich weiß auch nicht, ob alle unsere Sänger sich der Bedeutung dieser Worte bewusst waren. Aber dass diese Worte in dieser kirchenfernen Gruppe überhaupt gesungen werden, erfüllt mich mit heimlicher Freude. Denn diese Worte sind eine direkte Formulierung dessen, wofür ich bisher keinen besseren Namen als Frohe Botschaft gefunden habe.

Gottes Botschaft an die Menschen kann man par definition nicht vollständig in Menschenworte fassen, weder in Latein noch in Arabisch noch Persisch und selbst dann nicht, wenn wir ein ganzes Buch damit füllen. Deshalb ist Christus est natus ex Maria virgine freilich nur eine Formulierung von vielen.

Im November habe ich das Wort Bibelfetischismus erfunden. Ich las gerade die letzten Kapitel des Buchs Expedition zur Freiheit der evangelischen Theologen Klaus Douglass und Fabian Vogt. Sehr empfehlenswert übrigens, auch für Katholiken.

Ich bin schon immer allergisch gegen Bibelfetischismus gewesen. Meine erste Begegnung mit einer Bibelfetischistin hatte ich als Wölflingsleiter bei einem Elternbesuch. Damals fand ich es wichtig, dass wir Wölflingsleiter auch mit den Eltern unserer Zöglinge redeten, und schnappte mir bei jeder Gelegenheit ein anderes Staffmitglied und sagte „Komm, wir gehen mal beim Soundo klingeln“. Meistens freuten die Eltern sich sehr über unseren unangemeldeten Besuch, und bei einer Tasse Kaffee wurde dann über das Leben und die Pfadfinderei geredet. Bei besagter Bibelfetischistin kamen wir dabei auch zu Glaubensfragen und ich stellte nachher erstaunt fest: Das gibts nicht! Die beweist die Bibel mit der Bibel! „Was in der Bibel steht, sei absolut wahr, denn so stehe es in der Bibel“ behauptet sie. Diese Einstellung treffe ich hier in Estland häufig und bin deshalb froh, nun wenigstens ein Wort dafür gefunden zu haben.

Bibelfetischismus ist auch der Grund, weshalb wohlwollende Leute mit gesundem Menschenverstand zu überzeugten Atheisten werden können. Douglas Adams war so einer. Er selbst nannte sich sogar einen „radikalen Atheisten“, um sich bewusst vom Agnostizismus abzugrenzen [Wikipedia]. Seinen Roman Raumschiff Titanic las ich parallel zu oben erwähntem Expedition zur Freiheit und bezeichne diese Kombination als empfehlenswert. Also wenn ich wie zuletzt im Oktober den Kopf schüttele über die Ignoranz über das Christentum in Estland, dann muss ich eigentlich immer auch hinzufügen: die Esten stehen gar nicht so alleine da mit ihrer kultivierten Christenverachtung.

Aber noch was: Christenverachtung mag vor Bibelfetischismus schützen, bringt aber keine Lösung für das eigentliche Problem. Je mehr sich mein Verständnis für Gegner von Bibelfetischismus entwickelt, umso mehr spüre ich auch das tiefe Bedürfnis der Menschen nach Antworten auf die große Frage „vom Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“, und somit die Wichtigkeit einer gemeinsam („kulturell“) entwickelten Antwort. So habe ich denn wieder mal begonnen, Fäden zu spinnen für eine „Bibelgesprächsgruppe“ hier im Dorf, bei der ich endlich wieder häufiger das tun könnte, was ich in Estland wohl am meisten vermisse: die Bibel als Treffpunkt nehmen, um mit Freunden über Gottes Wort und unser Leben auszutauschen. Wobei der erste Stolperstein schon bei uns in der Küche lag, denn Ly meinte sofort „Wieso willst du dabei von uralten Texten aus der Bibel ausgehen?“. Und als ich antwortete „Weil die Bibel trotz allem Missbrauch das einzig brauchbare Werkzeug ist“, nannte sich mich… einen Bibelfetischisten.

So, ich weiß nicht, ob das jetzt eine Antwort war, aber jetzt ist Zeit zum Schlafengehen. Schön, dass du bis hier mitgelesen hast!

Luc

Nachtrag (danke an Micha, Carine, Liliane)

Wieso sollte die Bibel gegenüber anderen Heiligen Schriften Vorrang haben? In der Tat eine berechtigte Frage. Ich persönlich antworte darauf, dass ich bisher noch nicht an inheränte Grenzen der Bibel als Werkzeug zur Selbstanalyse gestossen bin. Wieso also sollte ich nach anderen Werkzeugen greifen? Freilich kann man Fetischierung einerseits und Verachtung andererseits als Grenze sehen, aber die liegt ja in den Köpfen der Menschen, nicht in der Bibel. Die Bibel deshalb beiseite zu legen wäre für mich das Kind mit dem Bad ausschütten. Das Buch der Mitte erklärt scheinbar etwas fundierter als ich das je könnte, was an der Bibel so besonders ist. Ich habe bisher nur eine Rezension darüber gelesen. Wem das alles zu theologisch ist, den interessiert vielleicht dieser inhaltlich vergleichbare Artikel.

„Erweitere doch dein Angebot für den Gesprächskreis und gib allen humanistischen Quellen eine Chance, vielleicht ist das attraktiver für dein Umfeld.“ Es stimmt, dass ich die Gruppe besser nicht alleine leiten und zumindest einen redefreudigen Partner finden sollte. Und der wird ja dann logischerweise seine Lieblingswerkzeuge nutzen, und folglich sollte die Gruppe dann in der Tat nicht „Bibel“ im Namen tragen.