Die Martinssänger sind los!¶
Freitag, 9. November 2018.
Diese Woche war ich mit den Kindern in Tallinn, während Ly allein in Vigala blieb, um mal ordentlich aufzuräumen.
Mari war die ganze Woche lang als „Fuchs“ von den „Göttern“ schikaniert worden und hatte dann heute endlich ihre Taufe hinter sich gebracht. Insgesamt hat sie sich dabei auch relativ gut amüsiert. Aber jedenfalls war es 9 Uhr abends, als wir endlich in Vigala ankamen. Mari war todmüde und schlüpfte gleich ins Bett.
Aber Iiris und ich ließen es uns nicht nehmen, noch schnell wenigstens zwei Familien im Dorf als Martinssinger besuchen zu gehen.
Der Brauch des Martinssingens ist in Estland das Äquivalent des Sternsingens in Ostbelgien: Kinder gehen in kleinen Gruppen umher, klingeln bei den Leuten, singen ein Liedchen, sprechen Segenswünsche aus und kassieren als Belohnung Klümpchen und Plätzchen. Nur eben nicht am Dreikönigstag, sondern an Sankt Martin. Protestanten dürfen ja keine Heiligen verehren, aber glücklicherweise war Martin Luther zufällig just einen Tag vor dem Martinstag geboren (ich nehme an, dass sein Vorname gar nicht so zufällig Martin war), so dass in protestantischen Gegenden der Brauch des Martinssingens lediglich einen Tag vorher als Martinisingen weiter gepflegt werden darf.
Wer die Fotos genau betrachtet, kann sich fragen, weshalb wir denn das Gesicht mit Ruß geschwärzt haben und komische Kleider tragen. Genau gesagt ist es provokativ von mir, das Wort mardisant mit Martinssinger zu übersetzen. Unter estnischen Volkstumsanhängern dürfte diese Übersetzung auf Protest stoßen. Laut ihnen müsste ich eher „Mardusbettler“ sagen. Aber dann sträuben sich meine linguistischen Haare, denn erstens bedeutet ein sant nicht nur „Bettler“, sondern auch einen arbeitsunfähigen Menschen, der von anderen Dorfbewohnern beherbergt wurde.
Und vor allem wage ich zu bezweifeln, dass es den Brauch tatsächlich schon zu vorchristlicher Zeit gab und die Kinder dann als Boten des Totenverkünders Mardus ihre Nachbarn erschrecken gingen. Wie es zum Beispiel der estnische Lehrer, Schriftsteller und Naturschützer Kustas Põldmaa (1897-1977) ein Jahr vor seinem Tod in einem Aufsatz über den Martinstag behauptet:
Nach dem Seelentag (2. November) kommt der Martinstag (10. November), der Mardustag der alten Esten, an dem früher der mit dem Michelstag beginnenden Marras-Monat, d.h. die den Toten gewidmete Zeit, endete. Die Hausbesuche der Toten hörten auf, und die Totenfee der Menschen (mardus) zeigte sich nicht mehr in gespenstischer Nacht und erschien nicht mehr heulend und weinend im kahlen Wald. Es sei aber angemerkt, dass die Dauer der Seelenzeit unserer Vorfahren nicht einheitlich war und mardus nicht die einzige Bezeichnung für die Totenfee war, sie wurde auch margus und marras genannt. Die Bezeichnung selber ist ein Lehnswort aus dem alten Iran, wo es anfangs „Toter“ bedeutete, sich bei uns aber entwickelte und weitere Bedeutungen annahm (Freiseele, …). Übrigens kommt auch die Bezeichnung mardikas (Marienkäfer) von mardus, denn man nahm an, dass die Seelen der Toten in die Marienkäfer schlüpften.
Mit dem Einzug des katholischen Glaubens in unser Land begann man am Mardustag den Todestag des Bischofs Martinus von Tours zu feiern und den Tag umzubenennen zum Martinstag. Später feierte die Lutherische den Tag als Martin Luthers Geburtstag. Die Traditionen und Überzeugungen der alten Esten wurden zu Heidentum erklärt und mit der Zeit durch die aus Deutschland importierten Traditionen ersetzt. Aber der volktümliche Kern und Inhalt blieben bestehen.
Solche Texte lese ich kopfschüttelnd, weil ihr Ton bezeugt, wie heftig das estnische Volk sich gegen seine christliche Vergangenheit sträubt. Auch die estnische Volkstums-Datenbank Berta verliert in ihrem ausführlichen Artikel kein Wort darüber, dass der Brauch möglicherweise erst mit dem Martinstag nach Estland gekommen ist. Stattdessen lässt man in Estland die Leute glauben, der Brauch sei eine estnische Erfindung. Natürlich gab es Heischebräuche weltweit auch schon vor dem Christentum (also auch die Christen haben sie nicht erfunden), aber sie sind deswegen noch lange keine estnische Erfindung.
Ly schüttelt übrigens den Kopf über mein Kopfschütteln und sagt, ich sei ein Korintenkacker. Vielleicht hat sie Recht. Jedenfalls ist es auch mir letztlich egal, ob das jetzt nationalistisch, katholisch, neuheidnisch oder protestantisch gewürzt ist: Heischebräuche sind ein sinnvoller Bestandteil des Dorflebens, denn viele allein lebende Menschen warten sehnsüchtig auf die Nachbarskinder, und als erwachsener Begleiter habe ich so einen Vorwand, endlich mal bei meinen Nachbarn über die Türschwelle zu kommen. Was heutzutage viel zu selten geschieht.
Maris S. Kaasik (07.01.2006) Santimine ja söömine – eestlaste põline tava