Weihnachten bei den Immigranten¶
Sonntag, 27. Dezember 2015. Unser Weihnachtsfest verlief ganz wie gewohnt: den Heiligabend verbrachten wir mit hektischem Aufräumen, Weihnachsbaum- und Krippeaufstellen, welches sich gegen 18 Uhr dann wie durch ein Wunder beruhigte und zum traditionellen Graupenwurstessen (tanguvorst) wurde, dem eine besinnliche Bescherung mit trauten Beisammensein folgte. Ly zeigte sich mal wieder als Meister der letzten Minute und hatte alles im Griff. Iiris bescherte uns wie voriges Jahr pünktlich zum Fest mit 39 Grad Fieber, wodurch uns der Festgottesdienst erspart blieb. Auch am ersten Weihnachtstag durften wir dadurch einfach ausschlafen und faul sein.
(Hinweis: Nein, ich habe noch immer nicht gelernt, Gitarre zu spielen. Auf dem Bild stimme ich sie gerade für Mari, die vom Christkind bzw. Weihnachtsmann einen Anfängerkurs mit Audio-CD bekommen hat. Drückt ihr mal die Daumen, dass sie mehr Ausdauer hat als ich…)
Mit den Immigranten im Titel meine ich uns. Unser Haus ist wahrscheinlich im Umkreis von vielen Kilometern das einzige, in dem eine Weihnachtskrippe steht. Um Weihnachten fühle ich mich meistens, als ginge ich zu einem Geburtstagsfest und erführe dort, dass das Geburtstagskind krank ist und die Gäste es gar nicht kennen. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich einsehen: die Wintersonnenwende und die Freude über den Sieg des Lichtes über die Dunkelheit gab es gewiss schon vor dem Christentum. Die am weitesten verbreitete „Religion“ hierzulande ist nun mal der Atheismus. Selbst in der Kirche heißt Weihnachten in Estnisch nicht Weihnachten, sondern Julfest. So gesehen ist es irgendwie überheblich, wenn ich meinen hiesigen Freunden dann mit Jesus komme. So gesehen bin ich ein schlecht integrierter Immigrant. Also denkt an mich, falls gewisse Immigranten bei euch um Weihnachten lieber Maulid an-Nabī feiern oder gar auf die Idee kommen, sich eine Moschee bauen zu wollen.
Am zweiten Weihnachtstag war hier bei uns im Dorf ein Tanzabend, bei dem auch unsere Volkstanzgruppe auftrat, und mit ihnen Ly und ich. Als wir wie verabredet um 21 Uhr im Festsaal eintrafen, erschrak ich: da waren die anderen drei Paare gerade dabei, einen der beiden Tänze zu proben. „Wie bitte?! Ist die Probe etwa vorverlegt worden?“ Der Gedanke versetzte mich in Panik, denn gerade Ly und ich hatten diese kurze Probe vor dem Auftritt unbedingt nötig. Ich stand wie angewurzelt da, unsere Tanzlehrerin sah uns und rief „Na los, worauf wartet ihr noch? Zieht euch schnell um!“ – „Ja hat das denn überhaupt Sinn?“ fragte ich, „Wenn wir die Probe verpasst haben, dann ist es doch besser für euch und die Zuschauer, wenn wir gar nicht erst mittanzen.“ – „Red‘ keinen Quatsch“, beruhigte sie mich, „das hier war nur mal kurz zum Testen für die anderen, wir gehen jetzt im Nebenraum richtig proben.“ Uff. Einer der Tänze, die wir aufführten, ist die –zumindest unter estnischen Volktänzern– berühmte „Liebesgeschichte des Hannes aus Sangaste“ (Sangaste Jussi armulugu), die ihr euch hier anschauen könnt (aber nicht durch uns, sondern durch eine professionelle Tanzgruppe aufgeführt):
Ly und ich waren trotzdem froh, als unser Auftritt ohne allzu große Patzer überstanden war. Ich sage weiterhin: ein guter Tänzer wird aus mir mein Lebtag nicht, und dass wir überhaupt geduldet werden, liegt vor allem an der wegen Urbanisierung seit Jahren sinkenden Bevölkerungsdichte in Vigala. Aber es ist eine faszinierende Herausforderung, so wie andere Leute Freude am Bungeespringen haben.
Anders als beim Christkind muss man sich beim Weihnachtsmann sein Geschenk „verdienen“, durch Vortragen eines geistreich-witzigen Gedichtes oder Liedes. Als unsere Tanzgruppe so vor den Weihnachtsmann gerufen wurde, spürte ich herzwärmenderweise, dass die Einheimischen ihren tanzunbegabten Immigranten mit den schrägen Ansichten über Gott dennoch akzeptieren: ich bekam kurzerhand die ehrenhafte Aufgabe anvertraut, mit ihnen das französische Kinderlied vom Hirsch und dem Kaninchen vorzutragen (die in Deutsch ein Reh und ein Hase und in Estnisch ein Elch und ein Hase sind).