Die Bibel ist nicht das Wort Gottes

Wenn ich höre, dass jemand „Wort Gottes“ sagt, obwohl er eigentlich „Bibel“ sagen will, dann gehe ich auf die Barrikaden. Ich glaube, wir Christen sollten aufhören, die Begriffe „Evangelium“ („Frohe Botschaft“) und „Bibel“ (Heilige Schrift) in den gleichen Topf zu werfen. Ich finde es eine leider recht tief verwurzelte Unsitte, die Bibel als das „Wort Gottes“ zu bezeichnen.

Wenn ich mich darüber ärgere, höre ich manchmal den Einwand, dass das doch lediglich ein Wortschatzproblem sei und dass diese Dinge viel zu komplex sind, um sich deswegen aufzuregen. Mag sein, dass ich ein Korintenkacker bin, aber lest selbst.

Die beiden Konzepte sind eng miteinander verknüpft: Die Bibel berichtet, wie das Wort Gottes an Menschen erging und was daraufhin geschah, sie ist die einzige historische Informationsquelle über Jesus Christus, sie ist die Heilige Schrift der Christen und die Grundlage des christlichen Glaubens. Sie ist ein wunderbar reicher Schatz an Weisheiten, der sich über Jahrtausende entwickelt hat, wir dürfen sie als Offenbarung Gottes verehren und sie benutzen, um mit Gott in Verbindung zu treten und sein Wort zu erfahren.

Aber das Eine ist eben nicht das Andere. So wie keine Liebesgeschichte die Liebe ersetzen kann, von der sie erzählt, so kann auch die Bibel nicht das Wort Gottes ersetzen. Das Wort Gottes lässt sich nicht in Menschenworte fassen. Das Wort ist „Fleisch“ geworden, nicht „Buch“. Die Frohe Botschaft ist zeitlos und ewig, während Heilige Schriften immer im geschichtlichen Kontext eines Volkes zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift gelesen werden müssen.

Die Frohe Botschaft kann unmöglich in einer Sammlung von Büchern „definitiv festgeschrieben“ worden sein, weil sie unfassbar größer ist als jede noch so heilige Schrift. Jede Heilige Schrift spricht in einen bestimmten geschichtlichen und kulturellen Kontext hinein, während die Frohe Botschaft universal und zeitlos ist. Wenn es ein universales Manifest der Frohen Botschaft gäbe, müsste dieses bei jeder neuen Erkenntnis über die sichtbare Welt angepasst werden.

Diese Vermischung der beiden Konzepte hat freilich tiefe Wurzeln: sie steht im Alten Testament. Für die Alten Juden gab es da keinen Unterschied. Für sie war klar: Gott spricht zu uns durch die Heilige Schrift; was nicht geschrieben steht, ist nicht von Gott. Es ist ganz logisch, dass sie für beide Konzepte das gleiche Wort verwendeten.

Aber diese Vermischung der beiden Konzepte hatte fundamentale Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik: Wer die Schriften nicht in- und auswendig kannte, der hatte kein Recht, Aussagen über gut und böse zu machen. Fast alle Macht lag in den Händen der Schriftgelehrten.

Jesus Christus stellte klar, dass es so nicht geht. Er kam, um uns zu retten vor den selbsternannten Polizisten Gottes, die glauben, seinen Rat ergründet zu haben und mit ihrer Heiligen Schrift als verbindlicher Abschrift seines Wortes herumwedeln zu müssen. Jesus Christus verkörpert die (damals) neue Idee, dass Glaube nicht durch menschliche Gesetze festgeschrieben werden kann, sondern Ursprung unserer Gesetze ist, dass das Gesetz für den Menschen gemacht ist und nicht umgekehrt, dass Gottes Wort mehr ist als Heilige Schrift. Jesu Geschichte verschweigt nicht, wie er etablierte Machtstrukturen zum Wanken bringt und auf welch tödlichen Widerstand er dabei stõßt. Aber die Geschichte hat ein Happy End, denn sie erzählt auch, wie Jesus seiner Lebensaufgabe bis zum Tod am Kreuz treu bleibt, wie Gott ihn auferstehen lässt und dadurch die im jüdischen Volk gewachsene Heilsgeschichte auf alle Völker ausdehnt. Jesus Christus hat definitiv bewiesen, dass ein Menschenleben mit dem Tod noch lange nicht zu Ende ist. Das ist die Frohe Botschaft! [1]

Das Problem wurde wieder akut, als Martin Luther über eine Alternative für den Papst nachdachte. Sein Gedankengang war nachvollziehbar: wenn wir keinen Papst wollen, dann brauchen wir etwas anderes, das als oberste Autorität in Glaubensfragen fungiert. So schlug er die Bibel als jene oberste Autorität vor. Ich will jetzt hier gar nicht unbedingt für eine weltweite Rückkehr zum Papsttum argumentieren, aber Luthers Vorschlag hat eine fatale Nebenwirkung. Bis heute berufen sich protestantische Gemeinden und Kirchen auf die Autorität der Bibel in allen Glaubensfragen, manche bezeichnen sie sogar als „irrtumsfrei“.

Aber wer die Bibel als „oberste Autorität“ sieht, kann leicht zu Trugschlüssen kommen. Die Unterscheidung zwischen Gut mit Böse ist nun mal letzten Endes Gott vorbehalten. Neue Schriftgelehrte verbreiten weltweit und recht erfolgreich einen Bibelfetischismus, der die Heilige Schrift wieder mit Gottes Wort gleichsetzt wie im Alten Testament. Durch diesen Bibelfetischismus wird Gottes Wort lächerlich gemacht, weil es nach heutigem Wissensstand nun mal lächerlich ist zu behaupten, Gott habe uns nicht mehr zu sagen als das, was in der Bibel steht. Diese lächerliche Karikatur der Bibel wird ganz zu Recht von vielen Menschen verworfen.

Das wäre lustig, wenn es nicht so dramatisch wäre. Wenn lächerliche Karikaturen der Frohen Botschaft dazu führen, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, indem wohlwollende Menschen sich logischerweise angeekelt von jeder weiteren Suche nach Gott abwenden. Denn die Frohe Botschaft (von der nicht nur die Bibel, sondern die Heiligen Schriften vieler Religionen zeugt) ist ganz offenbar der einzige Weg zum langfristigen Überleben der Menschheit auf diesem Planeten.

Es gibt also ganz offenbar Formulierungen, die ins Verderben statt zum Heil führen. Die Bibel als das Wort Gottes zu bezeichnen ist eine davon.

Wie könnte man eine so tief verwurzelte Formulierung „abschaffen“? Durch Klarstellung. Durch Texte wie diesen hier. Dieser Text ist ein öffentlicher Aufruf an die diversen Führungsgremien der christlichen Kirchen: denkt darüber nach und erwägt die Möglichkeit, dass ein Hobbytheologe etwas erkannt haben könnte, das vielen Profis bisher verborgen war.

Fussnoten

Andere Quellen

Die Deutsche Bibelgesellschaft (die-bibel.de) erklärt das Problem wie folgt: Judentum und Christentum nennen die Bibel auch „Wort Gottes“, „Heilige Schrift“ oder „vom heiligen Geist durchdrungen“. Das führt manchmal zu dem Missverständnis, Gott habe die Bibel sozusagen Wort für Wort „diktiert“. Die Bibel selbst zeichnet hier jedoch ein ganz anderes Bild. So erzählt z.B. der Anfang des Lukasevangeliums ganz offen von dem komplizierten und offensichtlich nicht immer im gewünschten Maß zuverlässigen Prozess der Weitergabe der Botschaft Jesu, der den Verfasser des Evangeliums dazu gebracht hat, „all diesen Überlieferungen bis hin zu den ersten Anfängen“ selbst „sorgfältig nachzugehen“, um sie sodann „in der rechten Ordnung und Abfolge niederzuschreiben“ (Lukas 1,3).

Es geht mir wohlgemerkt nur um die Bezeichnung „Wort Gottes“, nicht um die beiden anderen Formulierungen „Heilige Schrift“ oder „vom heiligen Geist durchdrungen“. Nur die erstgenannte Formulierung führt zum erwähnten Missverständnis.

Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) ist ein Beispiel für das, was mit der Frohen Botschaft passiert, wenn die Christen nicht aufhören, sie durch übertriebenen Bibelfetischismus lächerlich zu machen.

Der als Gründer der Posaunenchorbewegung in Deutschland bekannte Johannes Kuhlo (1856–1941) ist ein Beispiel für den Schaden, den Bibelfetischismus in unserem Gewissen anrichten kann. Sein übersteigerter Nationalismus wird zurecht als äußerst problematisch empfunden. Sein Vater war „streng bibeltreu“. Er war überzeugt, dass Hitler „von Gott mit großen Gaben ausgerüstet sei und laut seinem Buch Mein Kampf redlich das Wohl Deutschlands wolle“ (epid.de, R. Neumann via Wikipedia)