Teilweise gelungen

Mittwoch, 8. Januar 2025

Hallo Freunde,

wir wünschen euch Gottes Segen im noch relativ neuen Jahr und hoffen, dass ihr gut hineingerutscht seid.

Dieses Jahr hatten wir in Tallinn ja einen besonderen Jahreswechsel, weil das 47. Jugendtreffen der Communauté von Taizé hier stattfand. Etwas mehr als 3500 junge Erwachsene sind für drei Tage nach hier gekommen, um die Menschen Estlands kennenzulernen und Hoffnung zu propagieren. Teilweise ist ihnen das gelungen. Ich selber habe keinerlei Verdienst daran; nicht einmal im Chor habe ich mitgesungen, weil das einen kompletten Tag Probe verlangt hätte, was ich mir nicht zutraute. Aber immerhin habe ich es zu 3 der 4 Abendgebete geschafft. Dank mehrerer Teams professioneller Kameraleute kannst du dir diese vier Abendgebete vom 28., 29., 30. und 31. Dezember auf YouTube nachträglich ansehen. Man konnte einen gewissen Masseneffekt spüren. Okay, beim Sängerfest 2019 standen wir zu 35.000 auf der Bühne vor 60.000 Zuschauern, so gesehen ist es fast schon beschämend, 4.000 Leute als „Masse“ zu bezeichnen (zu den 3.500 Gästen kamen noch ca 500 hiesige). Aber scheinbar hat es in der Geschichte Estlands so viele Christen auf einmal noch nicht gegeben. Wenn du in der Hauptstadt eines Volkes, das sich als Sängervolk bezeichnet, Woche für Woche bestenfalls 40 Leute zu einem gemeinsamen Gebet zusammenkriegst (bei dem bekanntlich quasi nur gesungen wird), dann fragst du dich immer wieder mal, ob du auf dem falschen Dampfer bist, und dann tut es schon gut, wenn du zur Abwechslung mal 4.000 Leute um dich herum hast.

An einem Abend fuhr ich nach dem Gebet nicht mit einem Nachbarn im Auto direkt nach Hause, sondern mit einem der Sonderbusse in die Innenstadt. Der Bus war natürlich gut befüllt. Was mich schon bei meinem allerersten Besuch in Taizé beeindruckte, ist noch immer da: so viele Jugendliche auf engem Raum zusammen und trotzdem keinerlei Anzeichen von Frust oder aggressiver Stimmung. Wenn du an einem normalen Tag in Tallinn eine Gruppe Jugendlicher im Bus hast, kannst du immer auch ein paar kleine Zankereien beobachten. Und diese Jugendlichen hier zankten nicht nur nicht, sondern starrten auch nicht auf ihre Handys. Stattdessen redeten sie miteinander und schauten sich dabei an. Es gab auch eine Ausnahme: im Mittelteil des Busses, in dieser Ziehharmonika, wo es keinen Sitzplatz gibt, stand ganz allein ein junger Mann. Ich sprach ihn an und –siehe da!– es war ein Finne. Natürlich! Ich musste an den Witz vom Finnen im vollen Bus denken aus der Serie „Finnish nightmares“. Auch er kannte diese Serie. Und die ganzen 20 Minuten bis zum Stadtzentrum haben wir uns angeregt miteinander unterhalten. Ehrlich gesagt habe ich schon etwas mehr als er geredet.

Beim Gebet am 30. Dezember bekamen wir diese berühmten Kerzchen, die während des Gebets angezündet werden. Du sitzt dann anfangs mit deiner noch unnützen Kerze in der Hand da, kriegst irgendwann von deinem Nachbarn Licht gereicht und gibst es weiter, und kurz darauf erstrahlt der ganze Saal. Diese wunderbare Lichtvermehrung dauert nur etwa fünf Minuten, weil die Kerzen aus Sicherheitsgründen dann automatisch erlöschen. Als ich nach dem Gebet den Saal verließ, stand da vor der Tür eine junge Dame mit einem Karton, um darin die halb abgebrannten Kerzenreste einzusammeln. Glückliche Ehemänner in meinem Alter sollten junge Damen, die ihre Töchter sein könnten, nicht allzu blauäugig ansprechen, aber aus einer Ahnung heraus fragte ich sie „Where are you from?“, und –siehe da!– sie kam aus Korea. Korea! Erinnert ihr euch? Twinkling Watermelon? Crash-Kurs in K-Pop? Erst kurz vor Weihnachten hatte Iiris ihre Elternschulung fortgesetzt und begonnen, Ly und mir eine nächste Fernsehserie aus Korea zu zeigen: Hometown Cha-Cha-Cha. Das alles erzählte ich nun dem Mädchen und erfuhr, dass sie Yoonchin heißt, und ich durfte ein Selfie mit ihr machen. Dieses Selfie zeige ich euch allerdings nicht, das habe ich nur für Iiris gemacht. Später kam auch noch eine Freundin von ihr und die beiden sprachen in Koreanisch miteinander, was ich sogleich am Klang erkannte (weil wir kein Netflix haben sondern diese Serien im O-Ton mit englischen Untertiteln schauen). Iiris saß zu diesem Zeitpunkt mit Ly vorm Fernseher und schaute die nächste Episode von Hometown Cha-Cha-Cha an. Aber jetzt kommt’s: als ich nach Hause kam, war Iiris noch nicht einmal neidisch darüber, dass ich zwei echte Koreanerinnen getroffen hatte, während sie nur eine nächste Episode geschaut hatte. Und als ich ihr anbot, am nächsten Mittag für sie ein Treffen mit Yoonchin zu organisieren, lehnte sie erschrocken ab: „Was sollte ich denn mit denen reden?!“ Tja, wer nicht will, der hat schon.

Wir hatten zwei Österreicherinnen zu Gast, die waren echt nett und haben dadurch bewirkt, dass Iiris mitkam zum „Fest der Nationen“. Ly hatte sowieso geplant, den Jahreswechsel lieber allein im Bett zu verbringen und gab Iiris und mir deshalb ihren Segen, diesen Moment gemeinsam mit den 200 in unserem Stadtteil untergebrachten Pilgerern feiern zu gehen. Das Fest begann mit einem gemeinsamen Gebet, für die Pilgerer das vierte an diesem Tag, für Iiris das erste seit Jahren und vermutlich das letzte in absehbarer Zeit. Aber sie ertrug es ohne Murren und überraschte mich sogar noch dadurch, dass sie bei allen Liedern die Alt-Stimme vom Blatt mitsang.

Während dieses Gebets gab es auch einen lustigen Moment. Wir wurden aufgefordert, das Vaterunser jeder in seiner Muttersprache zu sprechen. So erklang in der kleinen Kirche von Nõmme aus zweihundert Mündern ein echtes Gebabbel in mindestens 20 Sprachen. Und eine einzige Gruppe sprach noch weiter, als alle anderen schon fertig waren: und zwar die Finnen. Was zumindest die Esten im Saal zum Schmunzeln brachte, denn das ist ein zweites Klischee über Finnen: dass sie langsamer seien als andere Menschen, weil ihre Wörter viel länger sind.

Ich habe das mal nachgezählt und 8 Sprachen anhand der Anzahl Buchstaben im Vaterunser verglichen. Englisch ist mit nur 262 Zeichen die kurzbündigste Sprache, und Finnisch fällt in der Tat als langwierigste auf:

../../_images/0106.png

Neben den Finnen gibt es noch ein anderes Volk, das für seine langsame Sprache bekannt ist: die Ents in J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“. Ich erlaube mir, eure Aufmerksamkeit mit einem Zitat aus der Wikipedia zu belasten: „Nachdem sie von den Elben sprechen gelernt hatten, erfanden die Ents auch eine eigene Sprache. Diese ist wie die Ents selbst sehr langsam und klangvoll mit ständigen Wortwiederholungen und kann von keinem anderen Volk als den Ents gelernt werden, da sie sehr kompliziert und zeitaufwändig ist. a-lalla-lalla-rumba-kamanda-lindor-burúme ist wohl der einzige Versuch, einen Teil eines entischen Satzes aufzuschreiben. Baumbart, der älteste Ent, sagt in Die zwei Türme, dass das Entische in der Regel nicht nur eine Beschreibung, sondern auch die Geschichte eines Gegenstandes oder Wesens erzählt und die Wörter deshalb so lang seien. Aus diesem Grund werden einfache Etikett-Begriffe wie „Berg“ von den Ents in ihrer Redeweise als hastig empfunden.“

Ansonsten hat meine Familie gar nichts vom Taizé-Treffen mitbekommen. Selbst Mari ist zu keinem der Gebete gegangen und fuhr schon am 30.12. frühmorgens wieder nach Tartu. Wer nicht will, der hat schon.

Auch der größte Teil des estnischen Volkes (nämlich die mindestens 70% Nichtchristen) hat kaum etwas mitbekommen von dem Treffen. Drei Viertel der Pilgerer mussten in Schulen übernachten, weil sich nicht genügend Gastfamilien gefunden hatten. Dem estnischen Fernsehen war das Treffen gerade mal einen einminütigen Kurzbericht am 31.12. wert (als es schon wieder zu Ende ging), und am 4. Januar nahm sich ein Radiomoderater Zeit für ein kurzes Telefoninterview, wobei er einleitend klarstellte, dass 4.000 Besucher für Tallinn so viel seien wie ein größeres Kreuzfahrtschiff (von denen jeden Sommer etwa 100 anlegen) und dass die Bezeichnung „Pilgerweg“ doch zunächst einmal an Islam und Mekka erinnere. Mich hätte der damit schnell auf die Palme gebracht. Aber zum Glück war nicht ich am anderen Ende seiner Leitung, sondern Regina, die seine rhetorischen Schwerthiebe lachend parierte. Später vergleicht er die Veranstaltung sogar mit den Kreuzzügen und fragt besorgt, ob auch Gehirnwäsche stattgefunden habe. Oh Gott. Aber wer nicht will, der hat schon.

Unsere beiden Österreicherinnen beim Abschied am 1. Jänner.

Uns geht es gut, nur zwei Kleinigkeiten erhoffen wir beharrlich vom Herrn: dass ich wieder besser schlafe und dass Ly ihre Arthritis überwindet.

Mit lieben Grüßen aus Tallinn von
Luc mit Ly, Mari und Iiris

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.

Nachwort

Hier das Programm, mit dem ich obige Grafik erzeugt habe:

paternosters = {
    "fin": """Isä meidän, joka olet taivaissa. Pyhitetty olkoon sinun nimesi. Tulkoon sinun
    valtakuntasi. Tapahtukoon sinun tahtosi, myös maan päällä niin kuin taivaassa.
    Anna meille tänä päivänä meidän jokapäiväinen leipämme. Ja anna meille meidän
    syntimme anteeksi, niin kuin mekin anteeksi annamme niille, jotka ovat meitä
    vastaan rikkoneet. Äläkä saata meitä kiusaukseen, vaan päästä meidät pahasta.
    Sillä sinun on valtakunta ja voima ja kunnia iankaikkisesti.""",

    "deu": """Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille
    geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und
    vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe
    uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das
    Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.""",

    "est": """Meie Isa, kes Sa oled taevas! Pühitsetud olgu Sinu nimi. Sinu riik tulgu. Sinu
    tahtmine sündigu nagu taevas, nõnda ka maa peal. Meie igapäevast leiba anna
    meile tänapäev. Ja anna meile andeks meie võlad, nagu meiegi andeks anname oma
    võlglastele. Ja ära saada meid kiusatusse, vaid päästa meid ära kurjast. Sest
    Sinu päralt on riik ja vägi ja au igavesti.""",

    "fil": """Ama namin, sumasalangit Ka. Sambahin ang ngalan Mo. Mapasaamin ang kaharian
    mo Sundin ang loob Mo dito sa lupa para nang sa langit. Bigyan Mo kami ng
    aming kakanin sa araw-araw At patawarin Mo kami sa aming mga sala Para nang
    pagpapatawad namin sa nagkakasala sa amin. At huwag Mo kaming ipahintulot sa
    tukso At iadya Mo kami sa lahat ng masama.""",

    "fre": """Notre Père, qui es aux cieux, que ton nom soit sanctifié, que ton règne vienne,
    que ta volonté soit faite sur la terre comme au ciel. Donne-nous aujourd’hui
    notre pain de ce jour. Pardonne-nous nos offenses, comme nous pardonnons aussi à
    ceux qui nous ont offensés. Et ne nous laisse pas entrer en tentation mais
    délivre-nous du Mal.""",

    "spa": """Padre nuestro que estás en el Cielo, santificado sea tu nombre,
    venga a nosotros tu Reino, hágase tu voluntad en la Tierra como en el Cielo,
    danos hoy nuestro pan de cada día, y perdona nuestras ofensas, como también
    nosotros perdonamos a los que nos ofenden, no nos dejes caer en la
    tentación, y líbranos del mal.""",

    "pol": """Ojcze nasz, któryś jest w niebie święć się imię Twoje; przyjdź
    królestwo Twoje; bądź wola Twoja jako w niebie tak i na ziemi; chleba
    naszego powszedniego daj nam dzisiaj; i odpuść nam nasze winy, jako i my
    odpuszczamy naszym winowajcom; i nie wódź nas na pokuszenie; ale nas zbaw od
    złego.""",

    # Ecumenical
    # https://www.wordproject.org/bibles/resources/our_father/e/The%20Lord's%20Prayer%20_%20Our%20Father_3.html
    "en-e": """Our Father in heaven, hallowed be your name, your kingdom come, your will be
    done, on earth as in heaven. Give us today our daily bread. Forgive us our sins
    as we forgive those who sin against us. Lead us not into temptation but deliver
    us from evil.""",

    # Catholic
    # https://www.wordproject.org/bibles/resources/our_father/e/Our%20Father_4.html
    "en-c": """Our Father, who art in heaven, hallowed be thy name. Thy kingdom come,
    thy will be done, on earth, as it is in heaven. Give us this day our daily
    bread and forgive us our trespasses as we forgive those who trespass against
    us; and lead us not into temptation, but deliver us from evil.""",

    # # Presbyterian Church
    "en-p": """Our Father who art in heaven, hallowed be thy name. Thy kingdom come, thy
    will be done, on earth as it is in heaven. Give us this day our daily bread;
    and forgive us our debts, as we forgive our debtors; and lead us not into
    temptation, but deliver us from evil.""",

}

labels = []
chars = []
data = []
for lng, text in paternosters.items():
    words = len(text.split())
    label = f"{lng} ({words})"
    if True:
        chars = len(text)
    else:
        # Nur Buchstaben statt auch Satzzeichen und Leerstellen:
        chars = len(''.join(x for x in text if x.isalpha() or x.isspace()))
    data.append((chars, label))
data.sort(key=lambda x: -x[0])
labels = [i[1] for i in data]
chars = [i[0] for i in data]

import matplotlib.pyplot as plt
fig, ax = plt.subplots()
bars = ax.barh(labels, chars)
ax.bar_label(bars, fmt=' %d')
ax.set_xlim(right=510)  # adjust xlim to fit labels
ax.set_title("Anzahl Zeichen im Vaterunser")
plt.savefig("0106.png")
plt.show()

N.B. Das Programm hat sich nach dem Rundbrief noch entwickelt. Ein Freund schlug vor, nur die Buchstaben und keine Satzzeichen zu zählen. Ein anderer wies darauf hin, dass er die Version, die ich für Englisch verwendet hatte, überhaupt nicht kenne. Aber egal welche Version ich nehme, Englisch bleibt die schnellste und Finnisch die langsamste Sprache.