Pfingstbrief¶
Sonntag, 28. Mai 2023
Hallo Freunde,
am Mittwoch (dem 31. Mai) wird es spannend: wenn Amalia dann beim gemeinsamen Gebet in der Bergkapelle schon wieder der einzige Teilnehmer unter 30 ist, dann höre ich auf, dafür zu werben. En attendant erzähle ich euch –vielleicht zum letzten Mal– wieso mir das Projekt wichtig ist.
Den Mund habe ich mir fusselig geredet in den beiden letzten Wochen. Und zwar ehrenamtlich. Bin Freunden auf den Keks gegangen, die der Kirche längst den Rücken gekehrt haben. Habe Flugblättchen gemacht und verteilt. Bin an einem Samstagnachmittag zu den Patro-Mädchen gepilgert, um sie einzuladen. Na ja, zu den Pionieren Sankt Martin habe ich mich nicht getraut. Aber wenn ich von der Kirche bezahlt würde, hätte ich sogar das gemacht.
Das Ziel meines Experiments ist, dass sich bis Juli genügend junge Erwachsene finden, die diese Gebetstreffen weiter machen. „Das wirst du nicht erreichen“ sagen mir alle, sogar mein eigener Verstand. Aber das hält mich nicht davon ab, es zu versuchen.
Denn irgendwas müssen wir doch tun. All die Leute, die sonntags nicht in die Messe kommen, wer erzählt denen die Frohe Botschaft? Google etwa? Amazon? Dass ich nicht lache!
Die Frohe Botschaft erzählt zu bekommen ist vor allem für junge Menschen wichtig, weil die ihr Leben noch vor sich haben. Die suchen noch nach was. Die brauchen die Frohe Botschaft am nötigsten. Wer einmal im Berufsleben steht und eine Familie gegründet hat, für den sind die weittragenden Entscheidungen gefallen. Deshalb ist der meditative Taizé-Stil extra für junge Erwachsene ab 15 entwickelt worden. So ein Gebetstreffen ist hygge, da trifft man interessante Leute, da ist viel Gesang und wenig Gerede, da sitzt man auf dem Boden statt in Reih und Glied. Und wer gerade weniger sozial drauf ist, kann sich einfach abseits setzen. Es gibt freilich auch Leute, die in reiferem Alter noch Spaß daran haben.
Solche Möglichkeiten zum gemeinsamen Gebet sind insbesondere für Leute wichtig, die nicht zur Kirche gehen. Wer allergisch gegen Bibeltexte ist, dem gebe ich als Tipp: ersetze in der Bibel das Wort „Gott“ durch „die Wirklichkeit“. Gott ist nichts anderes als eine Personifizierung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist das, was auch noch da ist, wenn keiner dran glaubt. Keiner ist so blöd zu sagen „Ich interessiere mich nicht für die Wirklichkeit“. Also wer mir sagt, Beten sei langweilig, der hat irgendwas falsch verstanden.
Ein Gebet im Taizé-Stil funktioniert nur, wenn man es ziemlich regelmäßig und mit ziemlich vielen und ziemlich diversen Leuten macht. Wenn da nur ein paar Pensionierte sitzen, oder nur Leute, die mit den Lehren der Kirche einverstanden sind, dann bringt es wenig. Und wenn man es nur einmal im Monat oder noch seltener macht, dann riskiert man einen geistigen Muskelkater. Denn regelmäßiges gemeinsames Beten ist wie Sport oder Geigespielen, ein „Training“ in positivem Denken, im Hoffnungbehalten trotz aller beängstigender Nachrichten und frustrierender Erlebnisse. Kein Mensch weiß, wie wir die Probleme mit dem Klima und den Kriegen und der Umweltverschmutzung und den Hungersnöten und Krankheiten lösen können. Deshalb ist es wichtig, Gott mal zu fragen.
Ich kann ja verstehen, dass niemand mit der Kirche was zu tun haben will. Erst gestern hat das Grenzecho tatsächlich gedruckt „die katholische Kirche lehnt queere Menschen ab“. Erstens ist das faktisch falsch: die Kirche lehnt homosexuelle Menschen mitnichten ab, sondern sagt, dass sie zum Zölibat berufen sind. Zweitens spricht der Artikel nur über die Lage in Polen. Es ist journalistisch unprofessionell, so einen Artikel in Ostbelgien ganz ohne Gegenbeispiel zu drucken, weil die Realität hier ganz anders aussieht. Ich kenne keinen ostbelgischen Priester, der einem homosexuellen Ehepaar seinen Segen verweigern würde.
Aber wenn ich die Kirche verteidige, muss ich zugeben, dass die Beweise gegen den Angeklagten sprechen. Die offizielle Lehre der Römisch-Katholischen Kirche müsste dringend revidiert werden. Und selbst Franziskus hat das bisher nicht geschafft. Die Kirche ist eine riesige und altmodisch strukturierte Organisation.
Aber ich wollte doch erzählen, weshalb mir mein Abschiedsprojekt in der Bergkapelle so wichtig ist.
Erstens weil ich gerade ein lebensgefährliches Abenteuer hinter mir habe, und weil wahrscheinlich der wichtigste Grund für meine Heilung ein „positiver Umgang“ mit dem Krebs war. Diese Fähigkeit zum positiven Umgang ist nicht etwa angeboren oder autodidaktisch erworben, sondern das Resultat dieses Trainings im positiven Denken. Wenn ihr irgendwo ein kostenloses Schnäppchen seht, empfehlt ihr das doch auch euren Freunden weiter.
Zweitens weil scheinbar eine der wichtigsten Ursachen für meinen Krebs der jahrelange Stress ist, den die Kirche in Estland mir verursacht. Ich stelle mir die Frage, wie ich mich vor diesem Stress schützen kann, wenn ich im Juli wieder zurück nach Estland ziehe. Ich sollte in Zukunft wahrscheinlich gewisse geistige Hygieneregeln beachten.
Das muss ich genauer erklären. Es gibt stressverursachende Weltanschauungen. Und es gibt eine Serie von Gretchenfragen, mit denen man solche Weltanschauungen erkennen und entsprechend reagieren kann. Die Frage nach dem Segen für homosexuelle Paare ist so eine Gretchenfrage. Diese Frage ist in Estland seit einigen Monaten mal wieder aktuell, weil das Parlament demnächst (hoffentlich) eine seit Langem erwartete Revision des Familiengesetzes gutheißen wird, die auch Eheschließung für homosexuelle Paare erlaubt. Und jetzt ratet mal, welche Organisation dagegen protestiert? Der „Rat der Estnischen Kirchen“ (EKN), der offiziell alle christlichen Konfessionen vertritt, aber meiner Meinung nach von evangelikal-fundamentalistischen Anschauungen dominiert wird. Eine Institution, die im Jahr 2023 noch gegen homosexuelle Ehen protestiert, die beschreibt einen anderen Gott als den meinen. Ich habe daraufhin ein Manifest geschrieben und auf einer estnischen Unterschriftensammlungsplattform veröffentlicht. Hier der Text:
Wir glauben an das Evangelium von Jesus Christus und kommen durch die Interpretation der Bibel zu dem Schluss, dass wir für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe sind. Unserer Meinung nach muss das Familienrecht geändert werden, wie es die Regierungskoalition plant[1]. Homosexuelle Menschen werden auch heute noch in vielen Kulturen ausgegrenzt. Wir halten es auch für Ausgrenzung, die Ehe zweier Menschen zu verbieten mit dem Vorwand, dieser Begriff sei für die Vereinigung eines Mannes und einer Frau reserviert. Gerade Christen sollten zu den ersten gehören, die bereit sind, historische Irrtümer loszulassen
Leider gibt es bisher in ganz Estland nur 79 Christen, die das unterschreiben haben. Alle anderen glauben an einen anderen Gott als ich.
Eine Hygieneregel könnte also sein, dass ich mehr nicht zur Kommunion gehe in Gemeinden, die dem EKN angehören. Gebete im Taizé-Stil wären dann meine einzige Verbindung zur Kirche. Wenn die aber selbst in Eupen nicht funktionieren, sollte ich vielleicht auch in Estland keine Energie mehr daran vergeuden. Das wäre mal ganz was Neues in meinem Leben. Deshalb bin ich gespannt auf den Ausgang des Experiments.
Sorry, falls ich mal wieder zu viel über die Kirche geredet habe, aber das sind nun mal die Themen, die mich zur Zeit am meisten beschäftigen. Ansonsten geht es mir gut.
Lino zum Beispiel macht mir keine Sorgen. Bevor ich weiter nach einem Verkäufer suche, will ich in Ruhe ein überzeugendes Produkt entwickeln. Frische Ideen habe ich jetzt genug bekommen. Und bis zu meiner Pensionierung habe ich ja noch zwölf Jahre. Momentan schreibe ich abwechselnd an einer Anwendung zur Verwaltung von Dienstleistungsverträgen und an einen Web-Shop mit integrierter Warenwirtschaft.
Gesundheitlich läuft alles nach Plan. Die Waage zeigt schon wieder über 63 Kg, und alle zwei Wochen muss ich mal kurz nach Leuven fahren, um eine halbe Stunde lang am Baxter zu sitzen und dem Arzt zu berichten, wie es mir geht.
Einmal bin ich zwischen Leuven und Eupen in Verviers ausgestiegen, um mir eine Mitraillette zu kaufen. Die habe ich freilich nur halb aufbekommen. Aber am nächsten Tag habe ich mir den Rest stückchenweise auf der Pfanne gewärmt, und das schmeckte fast so gut wie frisch frittiert.
Meine Frauen genießen das Leben in Estland auch ohne mein geographisches Dabeisein. Im Eupener Bioladen Houtziplou steht seit einigen Wochen ein Werk von Ly zum Verkauf. Es handelt sich um einen Gärtopf. Mehr dazu in der Broschüre unter dem Topf im Laden.
Meine Mutter hat sich leider noch immer nicht erholt von dem Schlaganfall, den sie Ende Januar erlitten hat. Sie redet und schreibt weiterhin nur wirres Zeug. Das ist einerseits traurig, andererseits ist es faszinierend zu beobachten, wie sie trotzdem noch mit den Menschen kommuniziert und ihr Bestes gibt. Offenbar brauchte sie noch eine solche Phase, um sich auf den Himmel vorzubereiten. Wir sind dankbar, dass Pfleger, Freunde und Mitbewohner gut für sie sorgen.
Vor einer Woche habe ich mir einen Fahrradhelm zugelegt, weil einige Freunde sich dann wohler fühlen.
Dieser Tage habe ich Drewermanns Ansprache an Selenskyj anlässlich der Karlspreisverleihung gehört. Dauert nur 16 Minuten. Endlich mal eine Meinung, die mir gefällt.
Danke, dass ihr wieder mal bis hierher gelesen habt. Ihr wisst ja: schon allein dadurch betet ihr für mich, selbst wenn ihr das nicht so formulieren würdet.
Liebe Grüße aus Eupen schickt
Luc
Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.