Weshalb ich nach Estland ausgewandert bin¶
Donnerstag, 23. Februar 2023
Hallo Freunde,
also am Valentinstag haben die Ärzte in Leuven wie geplant ein Bild meines Bauches gemacht, und am nächsten Morgen rief mein Onkologe an, um mir zu bestätigen, was ich schon „wusste“ (aber so ein Scan zur Bestätigung ist doch auch nicht schlecht): von meinem Tumor ist nicht mehr viel übrig und es hat auch keine Metastasen gemacht. Mit meiner Prognose, dass ich schon über Karneval operiert würde, lag ich allerdings daneben. Zuerst muss ich mich noch einige Wochen von der Chemotherapie erholen und wieder zu Kräften kommen, d.h. „viel essen und aktiv leben“. Mit letzterem war ich dann auch so beschäftigt, dass ich nicht einmal mehr Zeit zum Schreiben fand. Und auch jetzt will ich mich kurz fassen.
Aber eine Geschichte erzähl ich euch schnell. Am Freitag werde ich meine Damen voraussichtlich selber abholen fahren vom Brüsseler Flughafen (2x127 Km Autobahn). Mit dem Zug wäre es etwas langsamer und etwas teurer, aber einfacher und sicherer. Normalerweise wähle ich ja den einfachsten und sichersten Weg, aber dies ist eine Ausnahme: schon seit vier Monaten leben wir getrennt! Da zählt jede Stunde des Zusammenseins!
Das war erst die Einleitung, die Geschichte kommt jetzt. Wenn man sich mit dem Auto Brüssel nähert, ist es quasi unvermeidbar, dass man auch einige Zeit in einem Stau verbringt. Diese Staus auf dem Brüsseler Ring hatten damals einen beträchtlichen Einfluss auf meine Entscheidung, dass ich nach Estland ziehe statt Ly nach Belgien zu holen. Im März 1999, wenige Wochen bevor Ly zum ersten Mal nach Eupen kam und ich mich in sie verliebte, war ich einmal in einem Brüsseler Stau gestanden und hatte am Tag danach in mein Tagebuch geschrieben: „Unser Land wird von perversen Gesetzmäßigkeiten regiert, die sich um unser langfristiges Wohlergehen nicht kümmern. Und unsere Politiker tun nichts dagegen. Unsere Politiker haben ganz andere Sorgen. Im Radio lief heute die Meldung, dass ein neues Gesetz es den Parteien verbietet, im Rahmen der Wahlkampagne Plakate aufzuhängen, die größer als 4 Quadratmeter sind. Was soll das? Gibt es nicht wichtigeres zu entscheiden? (…) Ich könnte auswandern, Belgien verlassen, mir ein Land suchen, in dem mir der Regierungsapparat besser gefällt. Wenn man nicht mehr daran glaubt, den Karren aus dem Dreck rausgezogen zu bekommen, dann sollte man ihn stehen lassen. Solche Ideen habe ich manchmal… und was tue ich? Ich bleibe hier, ich arbeite brav weiter, stecke meine Energie in eine Gesellschaft ohne Zukunft, lasse meine Steuern in ein Fass ohne Boden fließen, das zudem noch von Blinden verwaltet wird.“
Diese Geschichte zeigt, dass ich schon „so“ war, bevor ich Ly kennenlernte. Ly ist also unschuldig. Diese Geschichte zeigt nicht, dass die estnische Politik mir besser gefällt als die belgische. Politikverdrossenheit hatte es ja eben nicht geschafft, mich zu bewegen, ausgewandert bin ich ja letzten Endes aus Liebe.
Meine Mutter macht Fortschritte und zeigt überdurchschnittliche Resilienz. Essen kann sie selber, wenn man es ihr vorsetzt und viel Geduld hat. Sie ist sich ihrer Situation bewusst und nimmt die Dinge gelassen. Manchmal kommen mehrere verständliche Worte hintereinander aus ihrem Mund. Wenn ich sie im Rollstuhl durchs Pflegeheim fahre, grüßt sie ihre Freunde und findet auch ohne Worte immer einen Grund zum Gespräch.
Am kommenden Montag habe ich Termin beim Chirurgen, um Datum der OP zu planen und weitere Analysen zu machen. Zur gleichen Zeit wird Mari einen Schnuppertag machen bei einer Freundin von Ly, die in Luxemburg als Übersetzerin bei der EU arbeitet.
Also bitte macht euch um meine Gesundheit keine Sorgen. Eher schon um das zweite Wunder, das ich selbst ja noch nicht einmal wirklich verstanden habe. Ein Freund, dem ich die Idee etwas detaillierter erklärt hatte, fragte daraufhin „Möchtest Du Unternehmer sein? Oder möchtest Du Samariter sein? Diese beiden passen in der heutigen Welt so nicht zusammen.“ Ich antwortete „Wenn ich mich entscheiden muss, dann bin ich Samariter. Unternehmer bin ich nur gezwungenermaßen. Aber vielleicht ist das Ultimatum falsch: mag sein, dass Unternehmer und Samariter in der heutigen Welt nicht zusammenpassen, aber vielleicht in der morgigen? Niko Paech spricht von einer „Nach-Wachstums-Ökonomie“ (sh. zum Beispiel https://www.youtube.com/watch?v=JFck2n-nM2E). Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler und kann das deshalb nicht kompetent kommentieren, aber mein Bauchgefühl sagt, dass das da was Wahres dran ist.“
Eines scheint klar: diese VoG werde nicht ich gründen, ich habe ja eine stabile laufende GmbH. Wenn mein Lebenswerk auch nach mir noch jemandem nützen soll, dann müssen andere Menschen mitmachen. Das ist nicht mehr mein Job, darum wird sich der Liebe Gott kümmern. Danke, dass du weiterhin mitbetest!
Grüße aus Nispert sendet
Luc
Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.
Feedback¶
2023-04-07 Ein Freund schickte zwei Links, die besagen, dass Unternehmer sehr wohl Samariter sein können, auch schon in der heutigen Welt:
Adam Grant schreibt in seinem Buch „Give and Take“, dass die oberste Stufe der Erfolgsleiter von „Gebern“ dominiert ist. Hier eine Rezension in Deutsch: Adam Grant: Sharing and giving - warum Geber erfolgreicher als Nehmer sind. Er erklärt sozusagen in moderner Geschäftssprache, was wir schon lange (spätestens seit Apg 20,35) wissen: Geben ist seliger als Nehmen.
Reinhard Wiesemann in Essen gibt ein gutes Beispiel ab: Ein Ruhrbaron der Wissensgesellschaft. Zitat: „Eigen- und Gemeinnutz sind voneinander unabhängige Dimensionen, so wie Länge und Breite eines Schrankes. Man kann mit der gleichen Handlung beides erzielen, man muss sich nicht entscheiden, diese Frage stellt sich überhaupt nicht“
Meine Meinung: Wir Menschen sind jeder so wie wir sind, mal altruistisch und mal egoistisch. Das ist kein Problem. Menschen dürfen egoistisch sein. Was im Denken vieler Leute fehlt ist die Differenzierung zwischen natürlichen und legalen Personen. Institutionen sind keine Menschen. Die Unterscheidung ist wichtig, weil die von uns erschaffenen egoistischen Insitutionen (gierige Riesen nenne ich sie) außer Kontrolle geraten und die Welt regieren. Wenn wir eine Katastrophe vermeiden wollen, müssen wir erbarmungslos gegen diese Institutionen vorgehen. Jeder Mensch verdient Erbarmen, aber keine Institution.