Ich bin umgezogen

Sonntag, 4. Dezember 2022

Hallo Freunde,

danke für all eure Gebete seit dem letzten Rundbrief!

Seit dem 25.11. wohne ich offiziell in Nispert, seit dem 1. Dezember arbeite ich 12 Stunden pro Woche im Büro der SOS-Hilfe VoG. Meine eigene Firma hat mich entlassen, aber ehrenamtlich bediene ich unsere Kunden in meiner Freizeit weiter. Übermorgen kriege ich in Leuven den port-a-cath eingesetzt und am Tag danach geht die erste Chemo los. Wenn ich widerspruchslos in Tallinn geblieben wäre, hätte die Chemo schon vor einem Monat begonnen. Hoffen wir, dass mein Tumor diese Verzögerung nicht ausgenutzt hat.

Mein Satz „Beten verändert nicht die Wirklichkeit, wohl aber den Beter“ hatte einige Reaktionen ausgelöst. Natürlich verändern Gebete die Wirklichkeit. Aber nicht „direkt“ durch irgendwelche übernatürlichen Mechanismen, sondern indem sie die Überzeugungen, Hoffnungen und Ängste der Betenden verändern. Und das ist allerdings weit mächtiger als allgemein bekannt. Solche Aussagen sind aber letzten Endes Theologie. Theologie ist der Versuch, etwas Kluges über Gott zu sagen, und kann insofern eigentlich nur scheitern. Deshalb ist es auch nicht schlimm, wenn wir uns bei solchen Aussagen gelegentlich widersprechen.

Eine ganze Woche brauchte ich um einzusehen, dass die estnische Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen wird. Ich hatte sogar einen Kompromiss bedacht: zurück nach Tallinn fliegen und dort schon mal die Chemo beginnen. Dann hätten die beiden Ärzte in Ruhe untereinander über die OP diskutieren können und ggf. käme ich nur für die OP mal kurz nach Leuven geflogen. Aber die Koordinatorin in der Tallinner Chemotherapie-Abteilung meinte, dass ich frühestens Ende Dezember dran käme. Sie sah keinen Grund zur Dringlichkeit, weil ich ja ihren ersten Terminvorschlag ausgeschlagen hatte, um eine zweite Meinung einzuholen. Sie hatte schon damals gesagt „Machen Sie sich doch nicht das Leben unnötig kompliziert! Zweifeln Sie doch nicht an der Kompetenz unseres Krankenhauses! Die Krankenkasse wird doch bestimmt nicht zahlen für eine Sonderbehandlung in Belgien.“ Sie selber, so bestätigte sie mir auf Anfrage, würde sich lieber den kompletten Magen rausschneiden lassen als nur ein Stück, dann wäre sie wenigstens sicher, dass alles weg ist.

Auch ist mein Magenkrebs scheinbar weltweit Routine. Insofern ist es durchaus verständlich, dass Dr. Afanasjev so selbstsicher sagte „In Belgien eine zweite Meinung zu fragen ist Zeitverschwendung, die werden Ihnen das gleiche sagen wie ich, weil Ihr Tumor in der ganzen Welt so wie bei uns behandelt wird.“ Umso weniger verstehe ich das Wunder, dass die Belgier es scheinbar besser wissen als der Rest der Welt. Dr. Eric Van Cutsem sagte mir im Beisein von Dr. Philippe Nafteux: „Wir schneiden in einem Fall wie Ihrem nur den Tumor und nicht den ganzen Magen raus. Ich weiß, dass das in manchen Ländern anders gemacht wird, aber wir machen es so. Ich habe in Tallinn schon Vorträge darüber gehalten.“

Um meinen offenbar extravaganten Wunsch zu erfüllen, musste ich also nach Belgien umziehen und einen Arbeitgeber finden. Der Umzug ging schnell, die Arbeitssuche fast ebenso schnell. Eine Woche lang hatte ich gehofft, dass das ÖSHZ Eupen mich einstellen würde. Aber dort mahlen die Mühlen langsam. Auch in der Pater-Damien-Schule sowie in einer Eupener IT-Firma hatte ich mich angeboten. Und dann ging alles ganz plötzlich: am Abend des ersten Advents fiel Johannes die SOS-Hilfe ein. Am Tag danach stand deren Geschäftsführer in Nispert auf der Matte und nach weniger als zehn Minuten war klar: dies war eine Win-Win-Situation für uns beide. Sie brauchten mich für eine Software-Umstellung, und ich hatte Lust, mal für einige Monate „die andere Seite“ zu sehen und „normale“ Arbeit zu machen statt immer nur zu programmieren.

Ly und die Kinder nehmen unsere Trennung von Tisch und Bett gelassen hin. Sie haben ja ihre eigenen Sorgen. Seit zwei Wochen herrscht in Estland Winter. Sie haben es mit Hilfe einiger Freunde geschafft, unser Auto mit Sommerreifen von Jädivere nach Vigala zu fahren. Ly arbeitet intensiv an ihrer Zukunft als Keramikmeister, indem sie Töpfereikurse in der ehemaligen Tallinner Stadtmauer gibt und einen Englischkurs nimmt, weil sie ab September an der Estnischen Kunstakademie studieren möchte. Mari steht mehrmals pro Woche in einer Bude auf dem Tallinner Weihnachtsmarkt und verkauft warme Socken. Iiris hat wegen leichten Fiebers eine Woche im Bett genießen dürfen.

Auch ich genieße die Auszeit von der eigenen Familie. Bei Johannes und Gaby in Nispert darf ich wie ein Bruder oder Onkel am Familienleben teilnehmen. Meine Mutter freut sich über meine fast täglichen Besuche. Meiner Schwester versuche ich bei ihrer Wohnungssuche zu helfen. Bei beiden Chören der Eupener Familienmessen darf ich wie selbstverständlich mitsingen. Das Traurigste ist, dass mein Magen mir gewisse kulinarische Genüsse verwehrt und mir gelegentlich Streiche spielt. Neuerdings klassiert er sogar Camembert als ekelhaft.

Luc

Diesen Rundbrief habe ich per E-Mail an alle verschickt, die in meiner Freundesliste stehen.