Prinzipiell prinzipienlos

Dienstag, 21. Dezember 2021

Eine der Grundbotschaften des Evangeliums, die durch den Staub zweier Jahrtausende reichlich verdeckt ist, ist die Aussage, dass Gott unser einziger Herr ist und wir menschlichen Herren niemals gänzlich vertrauen sollten.

Wobei das Wort „Gott“ im vorigen Satz definitiv undefiniert ist, verstandesmäßig unfassbar. Jeder Name Gottes bleibt „heilig“, unbegreiflich, undefinierbar. Wer will, der kann ihn -wie die Christen- Vater, Sohn und Heiligen Geist nennen. Mancher nennt es lieber einfach nur „Realität“. Kann mir alles egal sein, solange klar ist, dass es eben keinen Menschen gibt, der besser als ich zu wissen glaubt, was da genau hinter dem Namen steckt. Wer einen solch undefinierbaren Gott als seinen Herrn bezeichnet, der sagt letztlich „Keinem Menschen und keinem Prinzip werde ich jemals blind gehorchen“.

Diese Aussage des Evangeliums stellt uns aber vor ein Dilemma. Wir Menschen möchten -natürlich- unsere Lebenserfahrungen an unsere Kinder und Kindeskinder weitergeben. Und -natürlich- sind Texte eine unerlässliche Trägersubstanz für Erfahrungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Aber geschriebene Texte, Prinzipien, Regeln, und Gesetze sind und bleiben aber immer das Werk menschlicher Herren. Das Evangelium widerspricht also gewissermaßen seiner eigenen Institutionalisierung: vertraue auf Gott, nicht auf geschriebene Texte!

Es hat nicht ohne Grund Jahrhunderte gedauert, bis die Kirche sich dann doch zu einer Heiligen Schrift durchgerungen hatte. Und die Folge dieses kontroversen Schrittes war spätestens im Mittelalter deutlich sichtbar: nicht mehr Gott, sondern die Institution der Römisch-Katholischen Kirche wurde verHERRlicht. Aber das Evangelium lässt sich eben nicht einfangen, deshalb hat es immer wieder Stimmen gegen Institutionalisierung der Kirche (Klerikalismus) gegeben. Klerikalismus wird immer eine Erbsünde der Kirche bleiben, eine Sünde, an der wir keine Schuld haben und die wir nicht ablegen können, sondern mit der wir leben müssen.

Und trotz all des Unheils, das die Kirche angestiftet hat, sehe ich es aus allen Ecken und Kanten hervorleuchten, höre wie die Steine es rufen: eine Kirche, also eine Gemeinschaft der Gläubigen, ist trotz dieser ständigen Versuchung unumgänglich. Kirche muss sein, weil ansonsten jede Generation das Evangelium neu erfinden müsste. Wenn es keine Musikschulen gäbe, würden nur wenige Menschen es schaffen, sich eine Geige zu bauen und damit musikalische Botschaften zu verkünden. Ohne Schulen für Ingenieure und Wissenschaftler wären die meisten Hilfsmittel unserer Zivilisation nicht denkbar. Ohne Schulen des Evangeliums, die uns zur Freiheit der Kinder Gottes erziehen, würden die meisten Menschen sterben, bevor sie die existentiellsten Fragen des Lebens beantwortet hätten. Ohne Kirche ist die Rettung vor Todesangst und Hölle nicht denkbar, zumindest nicht für mich.

Und diese Kirche kann nur katholisch sein, d.h. ganzheitlich und universal, weil Gott alle Menschen aller Rassen und Kulturen liebt. Es kann einfach nicht sein –so glaube ich–, dass manche Arten von Menschen oder manche Kulturen besser wären als andere. Und ich glaube auch, dass diese Kirche apostolisch sein muss, d.h. dass einzelne Menschen („Apostel“) als Führer „eingesetzt“ werden. Die apostolische Regierungsform ist undemokratisch, aber sie ist auch nicht monarchistisch, weil die Apostel über keine weltliche Durchsetzungskraft verfügen, sondern ihr Amt als Diener der Ihnen Unterstellten ausüben. Und jeder Einzelne der Untergebenen hat, wenn er intuitiv ein Problem sieht, das Recht und sogar die Pflicht, seinem Chef die Meinung zu sagen.

Den folgenden Text von Rudolf Steiner (Quelle) deute ich als eine Bestätigung des eingangs erwähnten geschichtlichen Staubes: wer das Evangelium verstanden hat, der muss eine Kirche ablehnen, die zur klerikalen Institution verkommen ist.

Ich frage keinen Menschen und auch keine Regel: soll ich diese Handlung ausführen? sondern ich führe sie aus, sobald ich die Idee davon gefasst habe. Nur dadurch ist sie meine Handlung. Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normen anerkennt, dessen Handlung ist das Ergebnis der in seinem Moralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß der Vollstrecker. Er ist ein höherer Automat. Werfet einen Anlaß zum Handeln in sein Bewusstsein, und alsbald setzt sich das Räderwerk seiner Moralprinzipien in Bewegung und läuft in gesetzmäßiger Weise ab, um eine christliche, humane, ihm selbstlos geltende, oder eine Handlung des kulturgeschichtlichen Fortschrittes zu vollbringen.

Nur wenn ich meiner Liebe zu dem Objekte folge, dann bin ich es selbst, der handelt. Ich handle auf dieser Stufe der Sittlichkeit nicht, weil ich einen Herrn über mich anerkenne, nicht die äußere Autorität, nicht eine sogenannte innere Stimme. Ich erkenne kein äußeres Prinzip meines Handelns an, weil ich in mir selbst den Grund des Handelns, die Liebe zur Handlung gefunden habe. Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist; ich vollziehe sie, weil ich sie liebe. Sie wird „gut“, wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteckt; „böse“, wenn das nicht der Fall ist. Ich frage mich auch nicht: wie würde ein anderer Mensch in meinem Falle handeln? sondern ich handle, wie ich, diese besondere Individualität, zu wollen mich veranlasst sehe.

Steiner lebte vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, und wenn ich ich damals aufgewachsen wäre, wäre ich wahrscheinlich zu ähnlichen Schlüssen wie er gekommen.

Aber ich lebe ja hier und heute, deshalb kann ich an die Synodale Kirche glauben und hoffen, dass die Christengemeinschaft an der 16. Bischofssynode teilnimmt und gehört wird.