Ein Kompliment ans TSG

Montag, 21. Juni 2021. Morgen ist Maris Abschlussfeier im TSG (Tallinna Saksa Gümnaasium). Das Folgende würde ich ohne Zögern auch vor allen Leuten bei der Feier sagen, aber weil ich erst recht spät auf die Idee komme und weil es auch noch andere Leute gibt, die dort was zu sagen haben, schreibe ich meine Worte nur hier in meinem Blog.

Sechs Jahre lang ist unsere Tochter Mari ins TSG gegangen. Eine prägende Epoche in ihrem Leben neigt sich dem Ende zu. Bevor das Leben weiterfließt, habe ich mal versucht, meinen Dank in Worte zu fassen.

Das Meiste wird morgen wahrscheinlich durch kompetentere Leute als mich gesagt werden, deshalb will ich mich auf einen möglicherweise nebensächlichen Punkt beschränken: Das TSG ist mir aufgefallen als eine Schule, an der Menschlichkeit gelehrt wird. Es gibt prestigeträchtigere Schulen in Tallinn, in denen just dieses wichtige Lernziel zu kurz kommt. Das behaupte ich jetzt mal.

Menschlichkeit ist eine gesetzlich nicht klar definierte Sammlung von Vorstellungen darüber, wie der Mensch seiner idealen Bestimmung nach sein sollte. Das Wort bezeichnet in diesem Kontext Züge des Menschen, die als „richtig“ oder „gut“ gelten, zum Beispiel Mitleid, Nächstenliebe, Güte, Milde, Toleranz, Wohlwollen, Hilfsbereitschaft.

Vor knapp sechs Jahren kam Mari ins TSG. Sie hatte Schule bisher erfahren als einen Ort, wo Menschlichkeit bestenfalls von den Lehrern erwartet werden kann, nicht aber von Mitschülern. Als wir mit ihr bei der Eröffnungsfeier einen der letzten noch freien Sitzplätze fanden, saßen hinter uns zwei ihrer zukünftigen Klassenkameradinnen. Als die hörten, dass Mari eine Neue war, nahmen sie sie ohne Zögern an. Das nenne ich Menschlichkeit.

Menschlichkeit ist nicht gerade das, was zählt in einer Welt, in der Erfolg als höchstes Ziel gilt, Egoismus institutionalisert ist und manche Berufszweige sogar in der Kunst des Lügens trainiert werden.

Menschlichkeit ist, die Meinung des Anderen gelten lassen. Wir sehen immer deutlicher, dass Filterblasen, Hass und Intoleranz eine Gefahr für die Menschheit sind. Es heißt, dass wenn drei Esten miteinander diskutieren, haben sie mindestens vier verschiedene Meinungen. Deshalb sind nebenschulische Projekte wie Jugend debattiert oder MUNOT so wichtig.

Menschlichkeit ist, wenn man über die eigenen kleinen Interessen hinaus steigt und die Bedürfnisse des Nächsten genau so ernst nimmt wie die eigenen. Wenn Schüler spüren, dass ihre Meinung ernstgenommen wird, dann wachsen sie zu fähigen Akteuren einer menschlichen Gesellschaft.

Bei einer Abschlussfeier stehen gute Noten und herausragende Resultate im Mittelpunkt. Ja, Wettkampf ist wichtig, weil er Menschen motiviert, sich anzustrengen. Die Sieger verdienen Anerkennung. Aber was ist mit den anderen?

Hier fällt mir folgendes Gleichnis aus der Bibel ein. Ein Weinbergbesitzer ging morgens um 6 Uhr auf den Markt und heuerte Tagelöhner an, vereinbarte einen Denar als Lohn für den Tag. Mittags sah er, dass sie nicht fertig würden und ging wieder auf den Markt und heuerte weitere Arbeiter an. Ohne jedoch einen Lohn zu vereinbaren. Und kurz vor Feierabend gabelte er nochmal ein paar Arbeiter auf, die den ganzen Tag rumgelungert und auf Arbeit gewartet hatten. Und bei Tagesabschluss zahlte er die Löhne aus. Und sogar die zuletzt Gekommenen bekamen einen ganzen Denar. Da ärgerten sich die, die den ganzen Tag geschuftet hatten. Nicht weil sie zu wenig bekommen hätten, sondern weil die anderen genau so viel bekamen.

Menschlichkeit in der Schule ist, wenn Noten nicht alles sind sondern ein erfreuliches Nebenresultat.

Menschlichkeit ist das Lernziel, das alle Religionen gemeinsam haben. Religionen sind in Estlands Schulen seit einigen Generationen verpönt. Glaube sei Privatsache, heißt es. Es gibt also keinen staatlich geförderten Raum, wo man den Umgang mit den unsichtbaren spirituellen Kräfte trainieren kann. Eine der Folgen ist die verbreitete Überzeugung, dass man sich vor den Mitmenschen in Acht nehmen muss. Gerade deshalb sind Schulen wie das TSG wichtig.

Menschlichkeit kann man nicht messen. Es gibt keine landesweiten Schulwettbewerbe oder Olympiaden dazu. Insofern basiert meine Behauptung, dass das TSG „eine Schule ist, an der Menschlichkeit gelehrt wird“, nur auf meinem persönlichen Eindruck. Also bildet euch nichts darauf ein. Aber nehmt es als Kompliment und Ermutigung.

Ihr, liebe Lehrer des TSG, die ihr euch für Menschlichkeit im Schulbetrieb einsetzt, seid ein Licht der Welt. Man zündet nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern stellt es auf einen Leuchter, damit es allen denen leuchtet, die im Hause sind.

Deshalb fand ich, dass mal gesagt werden musste.

Luc Saffre
Tallinn

Quellen: