Pfarrer Carsten Schwarz zu Besuch in Vigala

Donnerstag, 5. Mai 2016. Und schon ist er wieder vorbei, der erste Besuch des neuen Pfarrers von Erkner, Carsten Schwarz, in Vigala. Zweieinhalb Tage „Zwangsurlaub“, für die ich alle anderen Projekte liegen lassen musste. Zweieinhalb intensive Tage. Aber die Mühe hat sich gelohnt.

Wenn ich Carsten mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, dann würde ich sagen „Brückenbauer“. Denn der geistige Spagat zwischen Erkner und Vigala ist eindeutig eine Herausforderung, und Carsten hat sie eindeutig meisterhafter bestanden, als ich es mir hätte denken können.

Meine erste und vielleicht größte Überraschung war, dass er so jung ist. Carsten hatte im vorigen Herbst seinen 50. Geburtstag gefeiert. Ich bin mit meinen 47 Jahren ja noch weit davon entfernt. Deshalb rechnete ich mit einem Mann, der deutlich älter ist als ich. Aber zu meiner Überraschung war Carsten ein Mensch, den ich jünger als mich eingeschätzt hätte, wenn ich es nicht gewusst hätte. Zur Erklärung habe ich später folgende These aufgestellt: Während ich meine midlife crisis schon fast hinter mir habe, haben Ly und Carsten sie noch vor sich. Wobei ich die midlife crisis definiere als das Sichabfinden mit der Erkenntnis, dass der größte Teil deines Lebens jetzt vorbei ist.

Hier einige Notizen zu unseren gemeinsamen Erlebnissen.

Montag, 2. Mai 2016

Ankunft in Vigala gegen 18.30 Uhr. Aus einem blauen Kleinbus, der zum Wohnmobil umfunktioniert worden war, stiegen ein Mann und ein Hund. Carsten und Falco.

Wir hatten nichts Offizielles geplant, weil die Ankunftszeit ungewiss war. Aber Kristiina hatte sich flexibel eingerichtet, Leenu freute sich über Falco, und außerdem waren Iiris und Jandra als Delegierte der Sonntagsschule mit dabei. Drei Erwachsene, zwei Kinder und zwei Hunde machten einen Spaziergang durch Kivi-Vigala.

Weiterfahrt bis Vana-Vigala. Spaziergang in den Wald. Mit Stoppuhr: nach 15 Minuten mussten wir wieder umkehren, denn Ly hatte für uns zum Abendessen „Strauss-Schnitzel“ mit Kartoffeln und Rotkohl gemacht.

Jeder Este würde sich nach 20 Stunden Autofahrt über eine Sauna freuen, aber Gäste aus Deutschland oder Belgien wählen normalerweise eher eine Dusche, denn an die Kultur der Sauna sie müssen sich erst noch gewöhnen. Auch ich habe damals mindestens ein Jahr gebraucht, um die Vorteile dieser nordischen Sitte zu entdecken. Carsten aber hatte zehn Jahre lang mit einer kleinen Sauna im Haus gelebt und freute sich über das Angebot. Brückenbauer.

Dienstag, 3. Mai 2016

Gleich nach dem Frühstück fuhren wir uns den „Kräuterhof“ anschauen (Uuskaubi talu von Sirje und Hillar Aiaots). Carsten kaufte gleich einen ganzen Karton voller Tees für den Kirchturmladen in Erkner. Sirje sagte zu, beim nächsten Besuch von Vigala nach Estland mit dabei zu sein.

Danach Besichtigung der Berufsschule. Führung durch Maie Üürike sowie Begegnung mit Direktor Enn Roosi.

Mittagessen im Übungsrestaurant der Berufsschule. Das Essen war –wie immer– schon reichlich abgekühlt, als wir es vorgesetzt bekamen. Immerhin ist es aus der Kantine, und die Kellner gehen es sich wie alle anderen abholen.

Anschließend Spaziergang: wir schnupperten kurz in die Grundschule von Vana-Vigala rein (das ehemalige „Schloss Fickel“ der Familie von Üexküll), spazierten dann durch den Park vorbei an Hungermauer und Sängerbühne über den vernachlässigten Familienfriedhof der Üexkülls bis zum Hiistal, wo wir über die Vigala hinweg immerhin einen Blick auf Hiistal und Hiis werfen konnten. Ein Hiis ist heidnischer Anbetungsort, es gibt deren über tausend in Estland. Morgen komme ich auf das Thema zurück.

Um 16.30 dann Treffen und Abendessen im Gemeindehaus. Kristiina, Juta, Heino & Eevi, Toivo, Aili, Liilian. Also der eigentliche Kern unserer Gemeinde. Hier gewann Carsten die Herzen aller Anwesenden, und für den nächsten Morgen bekam er sogar eine Privataudienz bei Kristiina. Hier sagte Kristiina einen wunderschönen Satz, der den Nagel auf den Kopf trifft: „In der glaubensfeindlichen estnischen Gesellschaft ist es schwer, den Kopf und das Selbstvertrauen hoch zu halten. Die Partnerschaft mit Erkner ist für uns ein wichtiges spürbares Zeichen, dass wir nicht allein sind.“ Allein wegen dieser Aussage hat sich Carstens Besuch gelohnt.

Danach kurze Pause bei uns zu Hause.

Später am Abend erhielt Carsten einen lebensnahen Einblick in die estnische Volkskultur, denn wir nahmen ihn und Iiris mit zu einer Veranstaltung unserer Volkstanzgruppe „Kiitsharakad“ anlässlich des Welttanztags. Das war keine wirklich öffentliche Veranstaltung, sondern eher eine gemeinsame Probe der beiden Gruppen (Frauen und Misch), die auf Video aufgenommen wurde, um sie später zu veröffentlichen. So kam es, dass Carsten und Iiris als improvisiertes Publikum herzlich willkommen waren.

Ich muss dazu sagen, dass der estnische Volkstanz und die estnische Kirche nicht optimal zusammen arbeiten. Aili, Ly und ich sind die einzigen getauften Christen bei den Kiitsharakad. In Estland gibt es mehrere kulturelle Bewegungen, die sich öffentlich vom Christentum distanzieren. Der Taara-Glaube entstand in Estland um das Jahr 1925. Bei der Volksbefragung von 2011 bekannten sich 1047 Menschen zu diesem Glauben. Daneben gibt es den Maausk („Landglaube“ oder „Erdglaube“), der weniger formalisiert und deshalb verbreiteter ist. Seit 1995 gibt es das Maavalla Koda, das auf seiner Website eher unchristliche und kirchenfeindliche Ansichten verbreitet.

Und es ist nicht von der Hand zu weisen: unter den Volkskulturfans ist dieser Maausk beliebter als das Christentum. In Vigala weiß jedes Kind, dass im 19. Jahrhundert die Kirche einmal den Hauptbaum des Hiis von Vana-Vigala hat fällen lassen, weil das Volk dorthin beten ging statt in die Kirche zu kommen. Hier ist viel Versöhnungsarbeit zu leisten. Kristiina hatte sich dann auch im Vorfeld eher skeptisch über meinen Plan geäußert, unseren Gast aus Erkner so tief in diese kirchenfremde Welt eintauchen zu lassen. Aber mein Gefühl hatte Recht. Die Kiitsharakad zeigten sich erfreut, dass unsere Tänze dem Herrn Pastor gefallen haben. Brückenbauer.

Mittwoch, 4. Mai 2016

Um 11 Uhr Begegnung mit Priit Kärsna, Bürgermeister von Vigala, im Gemeindehaus. Der lud uns dann auch zum Mittagessen in der Grundschule Kivi-Vigala und zeigte uns das „Dörferzentrum“, ein hübsch eingerichteter kleiner Festsaal mit Bühne für bis zu 100 Gäste. Carsten: „Hier würde ich im Winter Gottesdienst machen“.

Anschließend Spaziergang mit Kristiina durch Kivi-Vigala : Kirche, Friedhof, Altersheim. Letzteres war sowohl „süß“ (familiär) als auch „hart“, denn die Lebensbedingungen dort entsprechen eindeutig nicht zum Beispiel denen meiner Eltern im Josephsheim.

Um 15.15 Uhr Besuch bei Heino Aosaar privat. Seine Frau Eevi wartete mit einer „kleinen“ Kollation auf. Wir langten zu wie die Heudrescher, ich tat was ich kann um die Gespräche zu dolmetschen. Es ging unter anderem um Torfabbau und Landschaftsverbesserung. Um 16.05 Uhr erinnerte Carsten mich daran, dass ich um 16 Uhr die Kinder (Iiris und einen ihrer Klassenkameraden) hätte abholen müssen. Ich sprang auf, überließ das meiste vom Dessert den anderen und fuhr los.

Um 17.00 Uhr Besichtigung der Kirche von Velise unter Führung von Jüri Kusmin, der endlose und Geschichten zu erzählen weiß, mit deren Übersetzung ich jetzt definitiv überfordert war.

Danach Abendessen und Rundgang im Bauernmuseum „Sillaotsa“. Es gab einen Brei aus Kartoffeln und Gersten, der in Estland als mulgipuder bekannt ist, also aus dem Landkreis Viljandi kommt (dessen Bewohner scherzhaft „mulgid“ genannt werden). Der abschließende Rundgang durchs Freilichtmuseum ging dann relativ schnell, weil es für die Kinder höchste Zeit geworden war, ins Bett zu kommen. Carsten und ich waren nicht traurig darüber.

Donnerstag, 5. Mai 2016

Der letzte Tag. Heute nach dem Frühstück fährt Carsten nach Riga, wo seine Frau auf ihn wartet, um mit ihm im Bus zurück nach Erkner zu fahren. Sie hat Vigala bei diesem ersten Besuch verpasst. Wir hoffen aber auf baldiges Kennenlernen.

Vor dem Frühstück gingen Carsten und Iiris noch mit Falco spazieren. „Wie war es?“ fragte ich Iiris anschließend. „Schön“ antwortete sie.

Der Abschied war organisatorisch insofern besonders, dass ich schon um 8.30 Uhr Französischunterricht geben musste, und zwar zwei Stunden lang. So lange konnte Carsten nicht warten. Deshalb vertraute ich ihm unser Haus an, damit er nach dem Frühstück noch letzte Reisevorbereitungen traf. Als ich vom Französischunterricht zurück kam, waren Carsten, Falco und der blaue Bus weg. Und auf dem Küchentisch lag als Abschiedsbotschaft ein einziges Wort, aus Essensresten zusammengelegt: DANKE.