Meine Schwester Anne zieht um

Donnerstag, 21. Januar 2021

Hier eine Geschichte, in der ich euch bitte, mitzubeten.

Meine Schwester Anne hat schon als Jugendliche beschlossen „Ich werde nicht heiraten und Kinder großziehen, meine Berufung liegt woanders“. Nach dem Abitur hat sie ein Jahr in Bonn Pharmazeutik studiert und es dann hingeschmissen. Dann hat sie in Lüttich Architektur studiert, diesmal bis zum Diplom, aber danach sagte sie wieder „Nee, ich werde jetzt nicht in einem Büro gegen Gehalt irgendwelche Pläne anderer Leute ausarbeiten, ich habe wichtigeres zu tun“. Und wurde stattdessen Künstlerin. Ein ziemlich selbstsicheres Mädchen war sie schon immer.

Zweieinhalb Jahre lang habe ich mit ihr und ihrem damaligen Freund Dirk in einer Dreier-WG in der Gülcherstraße gewohnt. Während Dirk und ich uns mit Computern amüsierten und dafür Geld bekamen, arbeitete sie ohne Gehalt als Textilkünstlerin und kümmerte sich nebenher um unser Haus. Alle Umbauten hat sie von der Planung bis zur Ausführung geleitet, aber auch später im Alltag liebte sie ihre Rolle als Hausfrau, die putzte, aufräumte und sogar meine Unterhosen mitwusch.

Diese schöne Zeit endete dann durch zwei fatale Änderungen in unseren Leben: ich heiratete, und die beiden trennten sich.

Seitdem hat sie ungefähr sieben Jahre lang in Bordeaux gelebt und danach sieben Jahre lang in Aachen. Und jedesmal mit der gleichen Formel: sie findet einen alleinstehenden Mann, dem sie vertraut und der ihr vertraut, und die beiden wohnen zusammen. Wie ein Ehepaar, aber ohne Kinderwunsch und nicht lebenslänglich. Sie hat immer minimalistisch und trotzdem aus dem Vollen gelebt. Wenn es sich ergab, ging sie stundenweise bei anderen Leuten gegen Stundenlohn putzen und aufräumen, das hat ihr immer Spaß gemacht. Ihr Textilkunst-Atelier hat sie nach der Eupen-Zeit aufgelöst und in Bordeaux statt zu nähen Bücher geschrieben und herausgegeben (Mel an Colie und Les mousses du quai de la Garonne).

In Aachen war sie nicht mehr künstlerisch produktiv, sondern beschäftigte sich immer intensiver mit der eigentlichen Vision ihres Lebens.

Ein ausschlaggebender Grund für diese Schwerpunktverlagerung könnte ein traumatisches Erlebnis sein, das sie und ihr Freund Sébastien in Bordeaux hatten. Sie wohnten dort zufrieden in einer bescheidenen Mietwohnung. Irgendwann wurde das Nachbarhaus von einer Immobilienfirma gekauft. Diese Firma hatte aber größere Pläne, sie wollte das halbe Viertel abreißen und ein Einkaufszentrum dort hin bauen. Und als das Nachbarhaus ganz legal abgerissen wurde, passierte dem Kranführer ein Missgeschick und, oups! wurde auch das Haus mit Annes und Sébastiens Wohnung beschädigt, so dass den beiden im wahrsten Sinne des Wortes die Zimmerdecke überm Kopf zusammenbrach. Heute steht an dieser Stelle ein schmuckes Einkaufszentrum.

Ich würde sagen, sie schreibt ihre „Doktorarbeit“ an der „Universität des Lebens“ zum Thema „Architektonische und urbanistische Ansätze zur Förderung nachhaltigen Zusammenlebens in der Großstadt“. Schon in Mel an Colie schreibt sie über ein Minimumhaus. In fast jede Situation kann sie nachhaltiges Wohnen und das Menschenrecht auf Grundeinkommen einbringen. „Anne ist tot und nur noch als Prototyp wichtig für einen möglichen Ausweg aus der Krise“ umschreibt sie den Sinn ihres Lebens nach dem Trauma in Bordeaux.

Mit Glaube und Kirche hat sie kaum Kontakt, aber am Mittwochabend wurde bei einem Gebetstreffen in Tallinn folgender Gedanke aus Taizé vorgelesen: „Seit den Glaubenden der ersten Zeit erging der Ruf, in Schlichtheit zu leben und zu teilen. Es gehört zu den reinen Freuden des Evangeliums, immer wieder eine Einfachheit des Herzens anzustreben, die zur Einfachheit der Lebensgestaltung führt.“ Ich sehe da eine frappierende Ähnlichkeit zu Annes Doktorarbeit.

Ihr Umzug von Bordeaux nach Aachen hatte noch mindestens einen anderen Grund: meine Eltern wurden immer älter, deshalb wollte Anne in geografischer Nähe sein. Sie spürte den Ruf der Familie. Außerdem war unser Elternhaus im Favrunpark ein interessantes Forschungsobjekt für ihre „Doktorarbeit“: Ältere Leute sollten doch eigentlich mit jungen Leuten in einer Art Wohngemeinschaft zusammen leben. Wenn nicht mit den eigenen Kindern und Enkelkindern, dann irgendeine andere junge Familie. Mehrere Generationen unter einem Dach ist doch theoretisch viel effizienter. Wenn es denn in der Praxis klappt. Leider klappt es ja heutzutage relativ selten. Individualismus nennt man das. Anne hatte schon ziemlich konkrete Pläne für ein paar minimalistische Umbauarbeiten im Favrunpark, die eine Symbiose zweier Haushalte ermöglicht hätte. Unser Vater hätte sogar teilgenommen an Annes Forschungsprojekt. Aber für unsere Mutter war das dann doch zu utopisch.

Auch in Aachen hatte Anne einen Freund, mit dem sie in Wohngemeinschaft lebte. Ali heißt er, ein netter und intelligenter Physik-Doktor. Ly und ich haben ihn mehrmals persönlich getroffen, wenn wir in Eupen zu Besuch waren.

Aber auch diese Periode in Annes leben endete vor einigen Wochen recht abrupt, als Ali nach einem Jahr aus China zurückkam und erkannte, dass ihm diese Frau zu viel wird. Anne ist immerhin eine Künstlerin, und Künstler brauchen viel Lebensraum, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Diesen Raum wollte und konnte Ali ihr nicht länger bieten.

Seitdem sucht sie einen neuen Wohn- und Lebensraum. Aber eben nicht nur Wohn- sondern vor allem Lebensraum: Menschen, die mit ihr etwas anfangen können, die mit ihr Küche und Bad zu teilen bereit sind, die zumindest einen Teil ihrer Träume nachvollziehen.

Am 16. Februar muss sie mal wieder aus einer provisorischen Wohnung in Aachen ausziehen. Lasst uns beten, dass sie bis dahin die richtigen Menschen und Entscheidungen trifft.

Ich wünsche ihr vor allem eine Arbeit. Es sollte schon irgendwie mit ihrer „Doktorarbeit“ vereinbar sein. Weil sie nie „regelmäßig“ gearbeitet hat, müsste sowohl ihre Aufgabe als auch ihr Arbeitgeber schon speziell sein. Dafür ist sie minimalistisch in ihren Ansprüchen. Job und Wohnung sollten wahrscheinlich kombiniert sein.

Voilà, das war’s schon! Danke fürs Mitbeten :-) Ich bin überzeugt, dass bei Gott auch dein Gebet zählt.