Kredokratie

Das Wort „Kredokratie“ habe ich selbst erfunden. Es ist eine neue Form der Demokratie, die ich voraussichtlich einführen würde, wenn ich König wäre. (Weil das eher unwahrscheinlich ist, ist der folgende Artikel lediglich unvollendete Gedankenspielerei eines Hobbyphilosophen.)

Der Name kommt vom Lateinischen credo („ich glaube“) und hat mit dem Credo in der Kirche gemeinsam, dass es auch hier um Vertrauen geht. Vertrauen und Glaube bedeuten ja im Grunde das Gleiche, nämlich das Bejahen einer unprüfbaren Aussage. Der Unterschied ist lediglich kontextbedingt: „Vertrauen“ tut man auf zwischenmenschlicher Ebene, während „Glaube“ eher in Bezug auf Gott benutzt wird.

Unser Umgang mit unprüfbaren Aussagen ist ein zentrales Thema bei der Frage, wie wir Menschen unseren Planeten regieren wollen. Prüfbare Aussagen scheinen wir mehr oder weniger im Griff zu haben. Unser Problem sind die Themen, die unseren Verstand –beziehungsweise das verfügbare Budget zur Analyse– übersteigen.

Wichtigkeit der Demokratie

Schon viele politische Systeme haben die Menschen ausprobiert. Die Demokratie scheint eindeutig der Sieger zu sein. Weil „in der Demokratie davon ausgegangen wird, dass das Ziel des politischen Systems ein moralisches ist, nämlich der Schutz der Menschen und die Voraussetzungen für ihr Glück.“ (Mohamed Adel Mtimet in `Die falsche Revolution, 16.09.2016)

Prinzip

Die heutige Auffassung von Demokratie hat ein fundamentales Problem, nämlich sie ermöglicht Flucht in die Anonymität.

Politikverdrossenheit. Viele Menschen haben es aufgegeben, bei politischen Entscheidungen mitzureden. Woher kommt das?

Ein wichtiger Grund für Politikverdrossenheit ist: wir haben den Eindruck, dass unsere Stimme nicht zählt. Und dieses Gefühl der Verlorenheit kommt, weil wir keinen Politiker kennen, dem wir vertrauen können.

Ein Politiker ist einer, dem wir unsere Stimme delegieren. der bei der res publica (der Verwaltung des öffentlichen Guts) mitredet und mit entscheidet. Mitreden und Entscheiden bedeutet Arbeit, Energie und Zeit, und es ist korrekt, dass Politiker für ihre Arbeit bezahlt werden.

Selbst diejenigen, die pflichtbewusst wenigstens wählen gehen, wählen nicht aufgrund vertrauenswürdiger Informationen. Politiker müssen, um erfolgreich zu sein, nicht wirklich vertrauenswürdig sein, sondern lediglich den Eindruck erwecken. Sie müssen eine breite Öffentlichkeit davon überzeugen, dass sie vertrauenswürdig sind.

Vertrauen kann man nicht messen. Aber es gibt die intuitive Stimme des Herzens, die uns relativ deutlich sagt, ob wir einem anderen Menschen vertrauen oder nicht. Diese Stimme funktioniert aber nur in Bezug auf Menschen, die wir tatsächlich persönlich kennen, und mit denen wir Kontakt pflegen. Schon hinter der ersten Ecke (also bei den Freundesfreunden bzw. wenn mir jemand, dem ich vertraue, sagt „dem da kannst du vertrauen“) ist die Fehleranfälligkeit drastisch erhöht und steigt mit jeder weiteren Ecke potentiell an.

Die Grundregeln der Kredokratie denke ich mir wie folgt:

  • Jeder Mensch bekäme pro Verwaltungsbereich eine „Stimme“ für politische Entscheidungen. Verwaltungsbereiche sind die bestehenden Strukturen, z.B. Stadtteil, Dorf, Stadt, Provinz, Land, Region, Union… Jede dieser Stimmen kann er entweder selbst nutzen oder an einen anderen Menschen abgeben.

  • Wer seine Stimme selbst nutzt, ist ein Politiker und hat dadurch gewisse Verpflichtungen: sich zu informieren, seine Meinung zu sagen, Rechenschaft abzulegen über seine Tätigkeiten und Einkommensquellen. Dafür kriegen Politiker einen Lohn. Der Lohn eines Politikers hängt mehr oder weniger direkt von der Anzahl Stimmen ab, die er vertritt. Details sind pro Verwaltungsbereich zu klären.

  • Aber die meisten Menschen haben ja wichtigeres zu tun und werden deshalb ihre Stimme abgeben. Und zwar pro Verwaltungsbereich an exakt einen anderen Menschen.

  • Man sollte seine Stimme nur jemandem geben, mit dem man regelmäßig persönlichen Kontakt hat. Seine Stimme abzugeben bedeutet „Ich kenne dich und vertraue dir, dass du meine Interessen vertrittst“.

    Diese Regel ist wichtig um zu vermeiden, dass berühmte Persönlichkeiten oder wortgewandte Populisten einen Vorteil hätten, indem sie Stimmen von Menschen erhaschen, die sie gar nicht persönlich kennen.

    Ob und wie diese Regel kontrolliert wird, kann national geregelt werden.

  • Es gibt keine Wahlkandidaten. Jeder Mensch kann zum Vertreter eines anderen Menschen werden. Um das Vertrauen anderer zu kriegen, braucht man nichts zu tun und man kriegt auch keinen Lohn dafür.

  • Wer anderer Leute Stimme vertritt, braucht deswegen nicht selbst Politiker zu sein: er kann seine Stimme (seine eigene und alle, die er vertritt) weiterleiten, also seinerseits jemand anderem vertrauen.

  • Es gibt ein öffentliches Register, in dem jeder konsultieren kann, wer wem vertraut. Also das Wahlgeheimnis wird abgeschafft. Mehr dazu siehe weiter unten.

  • Vertrauen ist dynamisch und kann von heute auf morgen umkippen. Also es gibt keine periodischen „Wahlen“ und auch keine Wahlkampagnen, sondern jeder Politiker kann zu jedem Zeitpunkt sehen, wer ihm vertraut.

  • Eine Wahlpflicht kann es nicht geben, denn man kann einen Menschen nicht zwingen, seine Meinung zu sagen. Aber sich für niemanden entschieden zu haben ist eben auch öffentlich einsehbar. Wer weiß wählt, muss eben damit rechnen, auch diese Entscheidung im Bekanntenkreis zu verteidigen.

  • Jeder entscheidet frei, ob und auf welcher Ebene er als Politiker „aktiv wird“.

    Manch einer hat vielleicht nur ein paar Stimmen und bekommt kaum Politikerlohn, hat aber genügend Freizeit und Interesse, um an Diskussionen teilzunehmen. Um aktiv zu werden muss man jedoch ein Gremium finden, das dich haben will. Jedes Verwaltungsgremium kann ggf. auch Einzelpersosen rausschmeissen. Ob ein Politiker in mehreren Verwaltungsbereichen arbeiten darf (Ämterhäufung), ist prinzipiell egal und kann national geregelt werden.

Das Wahlgeheimnis wird abgeschafft

Die Abschaffung des Wahlgeheimnisses ist wohl eines der wichtigsten Merkmale meiner Kredokratie und dürfte auf Gegenreaktionen stoßen. Deshalb erkläre ich hier, weshalb ich sie als unumgänglich erachte.

Das Wahlgeheimnis dient vor allem dem Schutz der Privatsphäre. Jeder Mensch hat das Recht auf Privatsphäre. Aber Privatspäre hört auf, wo es um öffentliches Interesse geht.

Jeder Mensch hat auch das Recht auf seine eigene freie Meinung. Aber dieses Recht bedeutet auch eine Pflicht: die Pflicht, seine Meinung zu sagen. Zumindest bei Themen, die die res publica (die gemeinsame Sache) betreffen.

Wir alle haben mit den Menschenrechten auch Menschenpflichen. Und dazu gehört unsere Verantwortung für das Wohlergehen des Planeten. Diese Verantwortung kannst du nicht wirklich abgeben. Du kannst sie delegieren, aber selbst dann bleibst du verantwortlich für die Wahl deines Vertreters.

Ja, es ist eine wichtige Entscheidung, wem du deine Verantwortung überträgst, wem du deine Stimme gibst. Und sorry, so bequem das für viele von uns war und ist, aber diese Entscheidung kann nicht anonym bleiben. Das Wahlgeheimnis ist eine der tiefen Ursachen für Politikverdrossenheit und Gleichgültigkeit.

In der klassischen Demokratie dient die Anonymität der Wahl auch dem Schutz der Meinungsfreiheit: das Wahlgeheimnis verhindert eine bestimmte Methode, um Stimmen mit unlauteren Mitteln zu sammeln. Zum Beispiel könnte der Personalchef eines Großbetriebs auf die Idee kommen und alle Angestellen wissen lassen „Wenn du mich nicht wählst, bist du nächsten Monat deinen Job los“. Ich denke aber, dass heutzutage so etwas früher oder später auffliegen würde und wir solche Fälle von Machtmissbrauch dann über kriminalrechtliche Verfolgung geregelt bekommen.