Nationalfeiertag mit Korona, Krieg und Karneval

Freitag, 25. Februar 2022

Hallo Freunde,

bevor ich’s vergesse: am Aschermittwoch fliegt Mari nach Italien, um für 10 Monate als Freiwillige auf einem Bio-Bauernhof in Perugia zu arbeiten. Der Austausch wird vom Europäischen Solidaritätskorps gefördert. Sie freut sich riesig und zählt schon die Tage. Betet mit uns, dass alles gut klappt.

Aber was ich eigentlich erzählen wollte. Gestern feierte die Republik Estland ihren 104. Geburtstag. Ich war dieses Jahr beim feierlichen Flaggehissen beim Langen Hermann in Tallinn dabei. Parlamentspräsident Jüri Ratas begann seine Ansprache mit der Nachricht, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Fotos und Video vom Nationalfeiertag

Nach den beiden kurzen Reden wurden Heimatlieder gesungen. Heimatlieder sind ja vom Stil her sehr karnevalistisch. Während ich also Worte wie „Vaterland“, „Treue“ sang, dachte ich unweigerlich daran, dass in meiner eigenen Heimat heute ganz ähnliche Lieder aus ganz anderen Gründen gesungen werden. Das fand ich tröstlich bis mir einfiel, dass die ja in diesem Jahr auch wieder ausfallen wegen Korona. Ja, der Karneval vor dem Eupener Rathaus scheint auch dieses Jahr wieder ziemlich mager gewesen zu sein. Freut mich, dass die Altweiber trotzdem das Beste draus machen (brf.be).

Nach der Zeremonie am Langen Hermann sprach ich mit einigen neuen Freunden in der Sozialdemokratischen Partei über diverse Themen: über meine Idee des vertrauensbasierten Wahlsystems (Continuous Cascaded Voting), über die russischsprachigen Esten (und ob Estland da von Ostbelgien was lernen könnte) sowie –mal wieder– über Homosexuelle in der Kirche. Eine junge Lesbin war nämlich auch da und erzählte mir, dass ein orthodoxer Priester ihr erklärt habe, sie sei in der Kirche nicht willkommen. Ich meinte daraufhin, dass der Papst das anders sieht: Homosexuelle sind seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sehr willkommen in der Kirche, aber sollen sich nicht lebenslänglich binden. Vielleicht sollte der Papst ein bisschen klarer sagen, dass die Sündenböcke nicht diejenigen sind, über die man sich streitet, sondern diejenigen, die Öl ins Feuer schütten, um an Streit Geld zu verdienen.

Nach diesen Gesprächen nahm ich teil an einem kurzen Gottesdienst im Freien vor dem Gedenkstein des Baltenregiments, das von 1918 bis 1920 mitgekämpft hatte beim Freiheitskriegs Estlands. Wir hörten die Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, weil dessen Feuerchen besser brannte als seines. Und eine Rede von Jesus, der arme, ungebildete, friedensstiftende und barmherzige Leute seligspricht.

Die Parade und sonstigen Reden ersparte ich mir, so dass ich gegen 10 Uhr wieder zu Hause war, als meine Damen gerade aufwachten. Den Rest des Tages verbrachten wir zu viert in Tallinn. Ein feierliches Raclette zum Brunch und abends noch ein deftiges Abendessen.

Dazwischen machten wir einen richtigen Familien-Sonntagsspaziergang, bei dem mir aus unerklärlichem Grund ständig ein Lied von Franz-Joseph Degenhardt im Kopf herumgeisterte.

Ich versuchte gestern auch zu verstehen, wie es in der Ukraine so weit gekommen ist, und fand zwei Artikel aus dem Vatikan am einleuchtendsten (Ukrainekrise verschärft orthodoxen Kirchenkonflikt und Putin, der Einmarsch und die Religion) Ja, dass die Orthodoxe Kirche auch in Estland eigentlich zwei sehr verschiedene Kirchen sind, hatte ich schon vor zwei Jahren hautnah erlebt: Practising religion in Estonia.

Vor dem Abendessen fragte ich meine Mutter am Telefon, was sie bezüglich der Ukraine unternehmen würde, wenn sie Königin von Europa wäre. Wir beide überlegten, wie man in so einer Situation die andere Backe hinhalten könnte. Dabei kam mir die Idee, dass eigentlich die UNO die Verteilung der Territorien an die Regierungen regeln müsste. So wie die WHO entscheidet, wann sie eine Pandemie ausruft, hätten wir eine WTA („World Territorial Authority“). Und wenn eine Regierung findet, dass sie eine bestimmte Region besser verwalten kann als ihr Nachbarstaat, dann stellt sie einen Antrag an die WTA, die Soziologen und sonstigen Experten untersuchen die Sache und schreiben dann ein Gutachten, und danach wird sich dann gerichtet. Wäre doch eindeutig kostengünstiger als Krieg. Ist doch ganz einfach, oder?

Zum Abschluss des Tages schauen wir alle gemeinsam den Film Das fliegende Klassenzimmer (2003). Das war übrigens der erste Film, den wir auf unserem neuen Sofa schauten, das eine eigene Geschichte wert wäre über Hartnäckigkeit und Nachgiebigkeit bei kontroversen Entscheidungen.

Aber ansonsten geht es uns gut und wir senden liebe Grüße!

Luc, Ly, Mari und Iiris