Im gleichen Boot

Hallo Freunde,

ich hoffe, dass ihr wohlauf und zufrieden seid. Auch bei uns läuft das Leben seinen Lauf und es gibt nichts Sensationelles zu berichten.

Ly töpfert in Vigala, Mari und Iiris in der Schule, meine dringendsten Mails sind beantwortet und im Hintergrund läuft die Testsuite von Lino… Schon seit einigen Tagen dachte ich, dass es noch mal wieder Zeit für einen Rundbrief ist. Ein Rundbrief ist für mich ein bisschen, als würde ich mich mit einem von euch irgendwo treffen und zwei Stunden lang erzählen. Leider ist ein Rundbrief natürlich nur die eine Richtung eines Gesprächs. Aber auch das tut gut, es simuliert sozusagen einen Besuch beim Therapeuten oder bei einem sehr geduldigen Zuhörer.

Am 7. Oktober war unser zwanzigster Hochzeitstag. Ly und ich haben uns einen Tag frei genommen und sind 30 Km aus Tallinn rausgefahren zu einem Spa-Hotel, wo wir zweieinhalb Stunden lang sechs Becken und sieben Saunas fast für uns alleine hatten. Das hat uns gut getan. Einige Tage später haben wir beschlossen, dass wir unsere „Qualitätszeiten“ noch mal wieder etwas bewusster einplanen wollen. Die kommen bei unserem momentanen Lebensstil nämlich oft zu kurz. So fuhr ich dann zum Beispiel gestern abend mit Ly im Zug bis zur Überland-Bushaltestelle am Stadtrand, wo sie in den Bus nach Vigala einstieg. Wir fuhren mit dem Zug dorthin, weil unsere neue Wohnung den Vorteil hat, dass sie genau zwischen den beiden einzigen Eisenbahnlinien Estlands liegt. Während der Zugfahrt sprachen wir über die Frage, ob es Sinn macht, in öffentlichen Räumen eine Maske zu tragen. Ich erspare euch die Details, denn davon hört und lest ihr ja wahrscheinlich mehr als wir hier in Estland. Aber das sind so Themen, die bei uns im Alltag zu kurz kommen.

Ihr wisst gar nicht, wie froh ich bin über die Entscheidung, die ich im Juni gefällt hatte: Hamza und Tonis in die Welt hinaus senden und damit klar stellen, dass ich keine große Softwareentwicklerfirma aufbauen will, weil es deren schon genug gibt. Meine Vision mit Lino liegt auf einer anderen Ebene. Tonis hat am 21. September bei einer Firma in Tallinn angefangen und kriegt jetzt den doppelten Lohn. Hamza überlegt zur Zeit noch, ob er vielleicht nach Frankreich auswandern will, wo er einen Kunden hat. Ich rate es ihm ab, weil es in Frankreich schon genug Immigranten gibt, aber ich spüre seine Sehnsucht, mal aus Tunesien raus zu kommen und etwas von der Welt zu sehen. Beide, Tonis und Hamza, bleiben als unabhängige Lino-Entwickler zur Verfügung für den Fall, dass ein Kunde mal was Größeres braucht. Daneben habe ich jetzt einen neuen Angestellten, Hannes heißt er, einen 50-jährigen Physiker, der viele Jahre als Systemverwalter an der Universität von Tartu gearbeitet hat. Der ist mir eher ein Assistent als ein Untergebener. Ich spüre an allen Ecken, dass meine Entscheidung gut war, und blicke gelassen in die Zukunft.

Die Menschheit sucht zur Zeit ihr Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus. Ich meine jetzt nicht unsere persönlichen Prioritäten und Verhalten (jeder ist mehr oder weniger egoistisch und altruistisch, und jeder ist auf seine Art liebenswert), sondern wie wir diese beiden Extreme institutionalisieren. Durch die umwälzenden Entwicklungen der Kommunikation und Wissensverwaltung in den letzten Jahrzehnten stehen wir in nie dagewesener Weise vor der ewigen Herausforderung, diesen Planeten nachhaltig zu bewirtschaften. Die freie Marktwirtschaft ist dabei ein wichtiges Mittel, aber sie ist kein Ziel. Über das Ziel müssen wir uns einig werden: Wollen wir, dass die Starken überleben und die Schwachen über Bord geworfen werden? Oder wollen wir mit allen in einem Boot sitzen? Ich wüsste nicht, wie man diesen beiden Herren zugleich dienen könnte. Das sind die beiden grundverschiedene Richtungen, zwischen denen die Menschheit zur Zeit hin und her zögert. Für mich steht die Richtung fest, aber was mach ich dann mit denen, die in die andere Richtung wollen? Je kleiner die Erde wird, desto dringender wird eine prinzipielle universale Entscheidung.

Man kann es auch gelassener sehen: die prinzipielle universale Entscheidung ist eigentlich schon getroffen. Wir sitzen alle im gleichen Boot, basta. Und wer das nicht versteht, der wird früher oder später über Bord gedrängt. So oder so wächst das Reich Gottes auf Erden unaufhaltsam weiter. Die Frage ist dann lediglich, wie viel von unserer Zivilisation mit hineingelassen wird. Gibt es im Reich Gottes Computer? Ich will es gerne hoffen (das wäre bequem für mich), aber wenn wir weitermachen wie bisher, bin ich diesbezüglich pessimistsch. Zur Zeit kriege ich manchmal Angst, wenn ich sehe, wie die großen Mächte regieren. Wenn wir einige egoistische Riesenkonzerne entscheiden lassen, wie Technologie produziert wird und wozu sie verwendet wird, dann kann Gott diese Errungenschaften zuletzt nicht zulassen in unserem Boot. Das gilt nicht nur für Computer, sondern auch für Autos, Medizin, Unterhaltung, Nachrichten, Wissenschaft, Sport usw.

À propos Gott. Buasses noch, am Dienstag habe ich es noch mal wieder gut gehabt! Die Gebete mit Liedern aus Taizé in Tallinn erreichen eine neue Ebene. Nicht dass wir den Anspruch hätten, mit Profimusikern zu konkurrieren. Wir suchen nicht musikalische Perfektion, sondern lediglich ein ausreichendes Niveau, damit Singen Freude macht. Und wenn ich dann mit zehn Sängern im Kellergewölbe der Jaani-Kirche mitten in Tallinn zusammen sitze und bei Dieu ne peut que donner son amour den Tenor singe (mal was anderes), dann verändert das etwas in mir. In solchen Momenten bin ich zutiefst glücklich. Musik nicht als Ziel an sich, sondern als Weg zu Gott. Taizé-Gebete waren während der Jahre in Vigala wegen fehlender menschlicher Ressourcen nicht denkbar, hier in Tallinn entdecke ich sie neu. Freilich ist es selbst in der Hauptstadt nicht einfach, zehn Leute zu finden, die eine ähnliche Auffassung von Glück haben. Ich habe das Gefühl, dass meine Webseite laudate.ee mit dazu beiträgt, dass sich was tut.

Vorigen Freitag habe ich erstmals mit den Jugendlichen von Fridays for Future gestreikt und mit ihnen eine Stunde lang vor dem Denkmal von A.H. Tammsaare neben dem Viru-Hotel gesessen, nur 200 Meter von der Jaani-Kirche entfernt. Zur Begrüßung sagte ich ihnen: „Was ihr hier macht, ist so wichtig! Ein Streik ist ein bisschen wie wenn Gläubige sich zu einem Gebet versammeln: man hört mal kurz bewusst auf, im Hamsterrad mitzulaufen. Ihr ahnt, dass sich in unserer Gesellschaft etwas ändern muss und ruft den anderen zu „He, hier geht es lang“. Ich glaube, ihr habt Recht, deshalb mach ich mit“.

So, ich bin zwar noch lange nicht fertig, aber aus den zwei Stunden sind schon vier geworden, der Testlauf ist schon lange zu Ende, jetzt will ich noch mal wieder was Nützliches tun.

Liebe Grüße und Gottes Segen! Luc

Donnerstag, 15. Oktober 2020