Iiris geht nach Tallinn zur Schule¶
Sonntag, 8. Juli 2018. Über eine kleine Sensation in unserer Familie muss ich jetzt berichten: Iiris hat die Aufnahmeprüfung zur Tallinner Musikmittelschule bestanden und wird im September dort beginnen. Damit endet ihre glückliche Kindheit auf dem Lande drei Jahre früher als ursprünglich geplant. Ich versuche mich kurz zu fassen.
Die Tallinner Musikmittelschule ist die Schule für zukünftige Profimusiker in Estland und hat auch ansonsten einen guten pädagogischen Ruf.
Die Sache hatte schon um Weihnachten 2017 begonnen, als Jaanika Kuusik im Weihnachtsgottesdienst in Vigala gesungen hatte. Jaanika kommt aus Vigala und ist in Estland bekannt als Dirigentin und Solosängerin. Von Jaanikas Mutter hatte Ly gehört, dass man die Musikmittelschule möglichst früh beginnen muss, sozusagen bevor der Zug abgefahren ist. Seitdem war Ly begeistert von der Idee, dass unsere Iiris ab September 2018 womöglich dort zur Schule gehen darf.
Nicht unwichtig war dabei die Tatsache, dass Ly dann nicht mehr ständig zwischen Tallinn und Vigala hin und her reisen muss, sondern beide Kinder wieder im gleichen Haushalt bemuttern kann. Iiris hatte es in den vergangenen drei Jahren doch oft schwer, wenn sie mehrere Tage pro Woche ohne Mama einschlafen musste. Ich bin zwar ein guter Vater, aber eine Mutter kann ich definitiv nicht ersetzen.
Ein kleiner Haken an der Sache war, dass Iiris überhaupt nicht von der Idee begeistert war. Sie hat zwar eine überdurchschnittliche musikalische Begabung, aber kaum Motivation, daran zu arbeiten. Nur mit Hilfe genialer Tricks hat Ly es im vergangenen Halbjahr phasenweise geschafft, dass Iiris eine halbe Stunde pro Tag übte.
Dreimal fuhren wir in den kommenden Monaten mit Iiris nach Tallinn zu einer Konsultation bei Tiiu Peäske, die in der Musikmittelschule Geige lehrt und die Saiteninstrumentabteilung leitet.
Tiiu sagte von Anfang an, dass Iiris gute Chancen habe, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, dass sie aber auch viel nachzuholen haben werde. Was kein Problem sein dürfte, wenn sie nur Freude am Arbeiten entwickelt. Dass Iiris von dieser Freude bisher nicht viel vorzuweisen hat, fand Tiiu eher normal. Nach diesen Konsultationen war auch Iiris immer in optimistischer Stimmung.
Ende März ließen wir Iiris einen Tag lang in der Schule als Gastkind mitmachen. Das war eher ernüchternd für sie und danach war sie wieder deutlich pessimistischer.
Im April ging Ly mit Iiris zu einer Sterndeuterin („Astrologin“ nennen die sich heute). Ich fragte Iiris anschließend „Na, was hat die Wahrsagerin gesagt?“, und Iiris antwortete „Dass ich in Vigala bleiben soll“. Woraufhin Ly sogleich korrigierte, dass die Antwort gar nicht so klar gewesen sei. Aber mir reichte Iirisens Zusammenfassung. Seitdem waren Iiris und ich uns einig, dass wir weiter in Vigala wohnen werden, wir müssen es nur noch der Mama erklären.
Anders als Tiiu hatte Ruth, Iirisens Geigenlehrerin in Märjamaa durchaus Bedenken. Ende Mai wurde sie deutlicher und sagte, in den verbleibenden zwei Wochen bis zur Aufnahmeprügfung am 15. Juni müsse Iiris sich jetzt wohl endlich ins Zeug legen und täglich fleißig üben. Aber das tat Iiris nicht einmal ansatzweise. Ruth erklärte daraufhin, dass Iiris nicht korrekt vorbereitet sei und sie unser Vorhaben nicht gutheißen könne. Ich war mit Ruth ganz einverstanden.
Anfang Juni verkündete ich im Dorf, dass die Sache entschieden sei: Iiris bleibe in Vigala.
Eine Woche später meinte Aili (unsere Organistin) zu mir „Lass das Kind doch wenigstens an der Prüfung teilnehmen, selbst wenn sie nicht geübt hat. Dann hört ihr, was die Jury sagt, und dann lass die Dinge laufen so wie Gott lenkt. Und als Ly bei Tiiu anrief, um ihr zu sagen, dass wir unseren Traum aufgegeben haben, weil Iiris nicht will, lud Tiiu Iiris kurzerhand zu einer privaten Zusatzkonsultation zu ihr nach Hause ein. Iiris war inzwischen wieder einverstanden, an der Aufnahmeprüfung teilzunehmen unter der Bedingung, dass das nur zum Probieren ist und sie trotzdem in Vigala bleiben darf, selbst wenn sie angenommen wird.
Am Tag der Zusatzkonsultation war Ly verhindert, also fuhr ich mit Iiris hin. Tiiu zeigte Iiris zur Begrüßung ein Fotoalbum und meinte „Das ist so eine gute Schule! Wenn du die Aufnahmeprüfung bestehst, dann ist das ein Glück! Wenn du so eine Gelegenheit dann nicht nutzt, das wäre wohl ziemlich dumm von dir!“ Als dann Iiris ihr Konzertchen vorspielte (ihr Hauptstück für die Aufnahmeprüfung ist Teil 3 des Opus 35 von Oskar Rieding), dachte ich „Wow! Dafür, dass sie kaum geübt hat, spielt sie es wohl ziemlich fehlerfrei und sauber.“ Tiiu rief ihren Mann herbei „Toivo, kannst du mal gerade kommen und Iiris begleiten?“ Toivo Peäske ist ein zumindest in Estland bekannter Klavierspieler. Iiris spielte es nochmal mit Klavierbegleitung. Danach sagte ich zu Iiris „Hör mal, lass uns folgendes abmachen: wenn du die Prüfung bestehst, dann will der liebe Gott das. Dann gehst du ein Jahr lang in diese Schule. Was kann dir schon passieren? Schlimmstenfalls übst du einfach nicht und dann werden deine Lehrer uns schnell klarmachen, dass du besser in eine normale Schule zurück wechselst.“
Naja, und dann ist sie zu den Prüfungen gegangen, und am 20. Juni erfuhren wir, dass sie angenommen wurde. Als ich die Nachricht vorlas, rief Iiris entsetzt „Neeeiin!“. Sie hatte bis zuletzt insgeheim gehofft, ihrem Schicksal noch entrinnen zu können. Als ihre Eltern glauben wir aber, dass sie im Grunde ihres Herzens froh darüber ist und lediglich eine natürliche Angst vor den Änderungen hat.
Aber jetzt im Sommer braucht Iiris nicht zu üben, und ab September werden wir sehen, wie das Abenteuer weiter geht.