Drei Erkneraner zu Besuch in Vigala

Montag, 19. Juni 2017. Und schon ist er wieder vorbei, der diesjährige Besuch aus Erkner in Vigala. Monatelang schaut man darauf als zukünftiges Ereignis, jahrelang werden viele von uns es als vergangenes Ereignis in Erinnerung haben, aber das eigentliche Erlebnis dauert nur ein paar Tage und ist so schnell vorbei! Während Thomas, Veronika und Anke wieder unterwegs nach Hause sind und bevor ich mich wieder in den Alltag stürze, versuche ich einen Rückblick.

Was für ein gelungenes Wochenende! Es sind viele wichtige und gute Dinge passiert. Am Freitagabend kamen die Gäste an. Nach einem kurzen Zusammensein bei Aili fuhr Thomas zu Heino, während die Frauen noch mit Aili und mir durch den historischen Park von Vana-Vigala spazierten bis zum Opferstein des Vigala Sass und über den Familienfriedhof der von Üexkülls. Am Samstag sind wir zum Opferhiis von Vana-Vigala gepilgert, haben die Buchweizen-Verarbeitungsanlage des Biohofs Tõrvaaugu talu besichtigt, das Bauermuseum Sillaotsa in Velise besucht und am geistlichen Sängerfest in Suure-Jaani teilgenommen. Am Sonntag war Gottesdienst in der Marienkirche, Begegnung im Gemeindehaus, Besichtigung des Torfabbaus im Tõnumaa-Moor und zuletzt ein Drei-Völker-Grillabend auf dem Kräuterhof. Am Montagmorgen sangen Aili und ich den Reisenden zum Abschied den Aaronitischen Segen, bevor sie gegen Riga losfuhren.

Solche Besuche in der Partnergemeinde sind vollwertiger Tourismus, weil man fremde Länder sieht, und sie sind vollwertiger Urlaub, weil die Beteiligten Abwechslung und Erholung vom Alltag erfahren. Aber sie sind eine besondere Art von Tourismus, weil das Reiseziel nicht irgendwelche Sehensürdigkeiten sind, sondern die Menschen, die dahinter stehen. Und eine besondere Art von Urlaub, weil das beabsichtigte Erlebnis nicht irgendwelche Attraktionen sind, sondern zwischenmenschliche Begegnungen. So kommt es, dass weder Anke noch Veronika je in Tallinn gewesen sind, was ja für deutsche Touristen in Estland eher ungewöhnlich sein dürfte.

Unser Besuch des Opferhiis war ein theologisch freches Unternehmen, das ich mir als Pastor vielleicht nicht zutrauen würde, weil ich um Zigarren meines Arbeitgebers fürchten müsste. Deshalb hatte ich Kristiina vorsichtshalber weder um ihre Meinung noch um Teilnahme gebeten. Der Besuch begann in Ailis Wohnzimmer mit einem kurzen Vortrag über neuheidnische und nationalistische Bewegungen in Estland und meine Hoffnung der Versöhnung von Kirche und Volksglauben. Ich las das Gespräch am Jakobsbrunnen vor (Jh 4,1-14). Veronika berichtete von einem Haus in Rudersdorf, wo eine Herberge für Pilgerer auf dem Jakobsweg entstehen könnte. Ich sprach erstmals meine Idee aus, dass auf den Infotafeln zum Hiis (falls sie dann kommen) auch ein „Gebet am Hiis“ als christliche Botschaft stehen könnte, das die Fehler der Kirche in der Vergangenheit nicht unerwähnt ließe. Und wir alle haben dann unser Opferbändchen an der alten Eiche angebracht und somit symbolisch einen Schritt der Versöhnung seitens der Kirche getan. Krista (von der Folkloregruppe) hatte übrigens am Abend zuvor den gesamten Spazierweg um den Hiis herum gemäht, weil ich ihr gesagt hatte, dass ich am Samstagmorgen dort hingehen würde. Das sehe ich als einen Schritt der Versöhnung seitens der Volksbewegung.

Das große Event dieses Wochenendes war das geistliche Sängerfest in Suure-Jaani. Wir ḱamen pünktlich, um gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Urmas Viilma (Erzbischof der EELK), Arne Hiob (Johannesgemeinde Tallinn), Andres Uibo (aus Vigala stammender Organist und Komponist) oder Christoph Eichhorn (deutscher Botschafter der Bundesrepublik Deutschland) ein weiteres Apfelbäumchen zu pflanzen.

Danach horchten wir ergeben der Bach-Kantate „Ein feste Burg ist unser Gott“ (BWV 80), beeindruckend aufgeführt durch den Kammerchor Collegium Musicale und das Kammerorchester Concerto BachFest aus Tallinn. Anke und Veronika haben Teile daraus in Erkner mitgesungen. Anke ging später zu einigen der Aufführenden und sagte (mit meiner Hilfe als Übersetzer) ein spontan herzliches Dankeschön für diese schöne Musik. Danach hatten die Gäste aus Erkner die Ehre, zusammen mit den 1200 Sängern und Sängerinnen im feierlichen Umzug zur Sängerbühne zu gehen. Nach den feierlichen Reden (die ich leider nicht simultan übersetzt bekam) und dem überwältigenden Auftritt des Gesamtchors waren wir uns einig, dass dies als bleibende Erinnerung ausreicht. Wir ersparten uns die Strapaze eines Konzerts aus drei Stunden geistlicher Chormusik in estnischer Sprache und beschlossen unsere Tour nach Suure-Jaani mit einem kühlen Saku vom Fass bei Artur in der ehemaligen Wassermühle. Das entsprach nicht ganz der Etikette, laut der wir eigentlich mindestens bis zum Auftritt der Frauenchöre hätten ausharren müssen.

Im Gottesdienst am Sonntag bedauerte ich, dass ich mal wieder nicht zur Simultanübersetzung fähig bin. Fürs nächste Mal hoffe ich, dass ich wenigstens die Bibeltexte und Lieder im Vorfeld ausdrucke.

Beim Mittagessen im Gemeindehaus waren wir anfangs etwas erschrocken und enttäuscht, dass nur so wenige Beiratsmitglieder da waren. Es ist wirklich eine Herausforderung, den Menschen klar zu machen, wie wichtig und fruchtbringend der Austausch über Volks- und Sprachgrenzen hinaus ist. Als Trost wurde die Begegnung für alle Anwesenden dann umso schöner, denn Thomas fand den richtigen Moment zum Start einer Vorstellungsrunde, bei der sogar einige Mitglieder des harten Kerns sich untereinander besser kennengelernt haben.

Die Besichtigung des Torfabbaus am Sonntag war für mich eine bereichernde Erfahrung, die man außerhalb Estlands wohl nur noch selten antreffen wird. Während in Deutschland und Belgien die ablehende Haltung der Naturschützer den Tenor hat, gibt es in Estland so viele Sumpfgebiete, dass es (fast) allen Leuten richtig erscheint, wenn die Regierung einen Teil davon zur kommerziellen Ausbeutung frei gibt. Torfabbaumeister Heino brachte sehr gut den menschlichen Aspekt rüber: hier ist ein Team von 16 Personen, die sich mit Leib und Seele einsetzen, um die Schätze der Natur für andere nutzbar zu machen ohne die Natur selber allzu sehr zu schädigen.

Ob Torfabbau insgesamt richtig ist, will ich hier gar nicht persönlich entscheiden. Mir kommt die Sache trotz allem weiterhin so vor wie ein Kind, das beim Spielen ein Goldstück findet und sich dann freut, weil ein fremder Onkel ihm dafür eine Tafel Schokolade gibt… Ich sähe gern klarere Antworten auf die Fragen Wer profitiert davon? und Wer zahlt welchen Preis?. Auf einem Stück Hochmoor neben dem Abbau sahen wir üppige Bestände des wilden Rosmarins (Sumpfporst), der anderswo so gut wie ausgestorben ist.

Die Idee zu einem Dreivölker-Grillabend entstand, weil an diesem Wochende neben den Erkneranern auch zufällig zwei meiner alten Klassenkameraden und Freunde aus Ostbelgien mit ihren Frauen in Estland waren. Die hatten sich schon zur Besichtigung des Torfabbaus zu uns gesellt und blieben anschließend mit zum Grillabend. Hier kamen nicht nur drei Nationalitäten und zwei Muttersprachen zusammen, sondern auch „Folkloreleute“ mit „Kirchenleuten“. Ich würde das als eine (lokale) Sensation bezeichnen. Der gemütlich-familiäre Rahmen des Kräuterhofs lud zu lockerem Austausch ein, mehrere neue Freundschaften entstanden, und beim Tanz gaben sich alle die Hand. Günter lobte das Instrumentalensemble („Hey, die haben ihre Instrumente ja gut gestimmt! So ein Kontrabass ist natürlich Gold wert.“ und erklärte den Esten und Erkneranern, was eine Büttenrede ist und dass nächsten Sonntag die heilige Messe von Heppenbach nicht in der Kirche sondern im Bierzelt stattfindet.

Danke an Aili und Heino für Unterkunft der Gäste, an Ly für ihre Hilfe bei der Planung, an Krista fürs Mähen, an Juta, Lilian, Ly, Sirje, Ants und Heigi für Trank und Speise, an die Kiitsharakad für Musik und Tanz, an die Gäste aus Erkner und Ostbelgien füs Kommen und Mitmachen.

Dieser Artikel ist auch auf der Webseite unserer Partnergemeinde zu lesen: https://ev-kirche-erkner.churchdesk.com/blog/23214