Samstag, 16. Januar 2016¶
Dieses Jahr hat es bei uns noch nicht getaut. Der Winter kam zwar spät, aber mittlerweile haben wir schon drei Wochen Frost ohne Unterbrechung. Auch Schnee liegt inzwischen ca. zwanzig Zentimeter dick.
Gestern abend hatte Iiris entdeckt, wozu man den Schneehaufen vor unserer Tür benutzen kann. Nämlich zum Rodeln. Das hat sie heute morgen dann gleich mit viel Spaß und Freude getan.
Hier meldete der Akku meines Fotoapparats und meinte, dass er aufgeladen werden müsse. Also das Folgende ganz ohne Bilder.
Mittags fuhren Ly und ich mit dem Fahrrad nach Mõisa. Das war vor allem unsere gemeinsame Sonnenaktivität, aber Ly wollte natürlich in einem ins Geschäft, und auch ich hatte eine Idee, was ich in Mõisa erledigen könnte: bei Hillar vorbeigehen und einem Film abholen, den er mir am Donnerstag empfohlen hatte (aber da hatte ich die DVD nicht ausgeliehen, weil ich noch keine Ahnung hatte, wann wir sie schauen würden).
Hillar war mit einigen anderen Helfern dabei, den Volleyballplatz der Grundschule in eine Eislaufbahn umzufunktionieren. Sie schoben Schnee und Herbstblätter beiseite, während Jüri, der Kommandant unserer freiwilligen Feuerwehr, einen Schlauch bis zum Fluss legte, mit dem sie dann Wasser auf den Platz spritzen würden. Der Fluss ist jetzt fast ganz zugefroren, aber dafür gibt es ja Motorsägen.
Für Hillar war sowieso gerade nichts zu tun, also gingen wir die hundert Meter bis zu seiner Wohnung, wo er mir die DVD gab. Unterwegs sah ich, dass auf einem der Teiche noch eine zweite Eislaufbahn angelegt worden war, auf der schon jemand seine Kreise drehte. Dieser Jemand war Aili. Sie hatte sich einen Helfer gesucht, und zu zweit hatten sie eine Runde auf dem zugeschneiten Teich freigeschaufelt. „Wieso macht ihr denn dann noch eine Eislaufbahn auf dem Sportplatz?“ fragte ich Hillar. „Na aus Sicherheitsgründen. Wenn Aili das privat für sich macht, ist das okay, aber die Schule will doch lieber nicht verantwortlich sein, falls mal ein Kind durchs Eis bricht.“
Als Ly und ich von unserer Tour zurück kamen, sahen wir, dass Mari sich offenbar tatsächlich mal von Bett und Buch getrennt hatte und mit Iiris ein bisschen vor der Tür gewesen war. Denn auf dem Geländer des Vordaches standen zwei Sätze von Apfelsaft in Eisformen. Auch dass alle vier Schlitten noch verstreut draußen herum lagen, zeugte von Aktivität. Schön.
Inzwischen waren sie aber wieder drinnen. Beim Betreten des Hauses sah ich mit Schrecken das Schlachtfeld, das sie hinterlassen hatten. Die Kleider lagen auf dem Boden verstreut und der Küchentisch war mit Apfelsaft vollgekleckert. Von ihnen selbst nichts zu sehen und zu hören. Ich ging nach oben, noch im Mantel. Mari lag im Bett und las, Iiris saß neben ihr und spielte auf Maris Telefon. Ich sagte „Kinder, ihr müsstet aber aufräumen…“ Sie reagierten nicht. Ich gab es auf, ging wieder runter, machte mir ein Butterbrot und schwelgte in düsteren Gedanken. Unter anderem erwägte ich, mit Ly ohne Kinder nach Märjamaa essen zu fahren. Eigentlich hatten wir Pizza machen wollen.
Noch während ich aß kam Ly rein. Sie reagierte ihrem Temperament gemäß anders als ich. „Iiris! Mari!“ schallte es durchs Haus. Nach einigem Rufen kam dann auch tatsächlich Iiris angetrottet und ließ Mutters Standpauke über sich ergehen. Einige der Kommandos führte sie auch aus. Ich war skeptisch, dass das alles irgendwas nützte, aber brachte immerhin ein scherzhaft-ermutigendes Lob an Ly über die Lippen: „Du kannst eindeutig besser als ich schimpfen und kommandieren“.
Dann ließ ich meine Frauen allein und ging in meinem Zimmer aufräumen.
Aufräumen. Denn dass unsere Kinder nicht aufräumen, liegt ja nur daran, dass wir selbst es so selten tun.
Aufräumen. Seufz. Seit einer Woche liegt auf meinem Schreibtisch ein Artikel, den ich aus dem Maaleht vom 03.12.2015 ausgeschnitten hatte: Nabala ja Kabala von einem geiwssen Toomas Kiho (Chefredakteur der Zeitschrift Akadeemia und gelegentlich auch Berater des Präsidenten). Der Mann beklagt, dass die geplante Eisenbahnlinie von Europa nach Tallinn (Rail Baltic) falsch implementiert wird (nämlich als eine durchgehende ununterbrochene Trasse von Pärnu nach Tallinn, die sich dem bestehenden Netz nicht eingliedert). Für sowas habe ich eigentlich einen Ordner, in dem ich solche Andenken chronologisch sortiert abhefte. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber das ist ja die Frage: soll ich auf den Artikel reagieren oder nicht? Also surfe ich mal im Internet über den Autor und überfliege die 195 Kommentare in der Online-Version des Artikels.
Aber noch bevor ich die Kommentare sehe, sehe ich im rechten Rand folgenden Titel: Kuidas rääkida lapsega, kelle käitumine valmistab muret?. Eine kleiner unscheinbarer Artikel, der die Grundideen von Thomas Gordon darstellt. Offenbar auf einem Interview beruhend, das eine Journalistin aus Viimsi mit einem Trainer der „Familienschule“ gemacht hat.
War das jetzt ein Wink Gottes? Ich druckte den Artikel jedenfalls sogar aus und brachte ihn Ly (die übrigens inzwischen ebenfalls aufgegeben hatte und auf dem Bett lag). Etwas später ging ich runter und sagte zu Iiris „So, ich komm dir mal helfen beim Aufräumen.“ Von da an ging es uns allen wieder besser. Und die Pizza wurde sogar für 18 Uhr fertig.
Abends nach der Sauna schauten wir dann auch tatsächlich besagten Film. Der heißt Die Kinder des Fechters, spielt in Haapsalu zur Sowjetzeit und basiert teilweise auf wahren Begebenheiten aus dem Leben des estnischen Fechttrainers Endel Nelis. Sehenswert. Störend finde ich diese Glorifizierung des Erfolgs, die ich einfach nicht nachempfinden kann. Ob Ostbelgier da anders sind als der Rest der Welt? Tiens, kennt ihr den von dem Mann, der mit seinem Hund in die Kneipe kommt und zwei Bier bestellt, eins für ihn, eins für den Hund. Er trinkt sein Bier aus, der Hund aber wirft sein volles Glas um. Der Mann bestellt nochmal zwei Bier, trinkt seines aus, und der Hund wirft auch sein zweites Glas um. „Ja ja, das macht der immer so, wenn die AS verloren hat“ erklärt der Mann dem Wirt. Da fragt der Wirt: „Und wenn die AS gewonnen hat, trinkt er es dann tatsächlich leer?“ – „Natürlich!“ sagt der Mann, „Aber ich hab das noch nicht gesehen, denn ich habe ihn erst seit drei Jahren.“