Ingermanland und Christliche Glaubenslehre¶
Uff, der Rundbrief ist endlich raus: Luc in Charleroi. Mit einer Woche Verspätung. Das Problem beim Rundbriefeschreiben ist, dass das Leben weiter läuft, während man erzählt.
Das Thema Vielfalt (als Antwort auf Fremdenhass und wuchernde Kulturen) lässt mich noch nicht ganz in Ruhe. Mari war am Wochenende mit der kleinen Kindertheatergruppe von Vana-Vigala nach Kehtna zum Theaterfestival. Das Stück, bei dem sie mitspielte, drehte um unterschiedliche Hochzeitsbräuche in drei finno-ugrischen Völkern. Zwei davon waren wohlbekannt: die Finnen und die Esten. Vom dritten Volk dagegen hatte ich noch nie gehört: die ingermanländischen Finnen. Hinter Lithauen, Lettland und Estland gab es ganz früher mal noch ein viertes Land, das Ingermanland. Die Leiterin von Maris Theatergruppe hat ingermanländische Vorfahren.
Hier meine Zusammenfassung der Wikipedia-Artikel über Ingermanland und Sankt Petersburg.
Ingermanland ist eine historische Provinz im nordwestlichen Russland rund um das heutige Sankt Petersburg. Sie wird im Westen vom Fluss Narva, im Südwesten vom Peipussee begrenzt.
1703 hatte Peter I. im sumpfigen Delta der Newa mit dem Bau der Peter-und-Paul-Festung begonnen. Aus ihr entwickelte sich Sankt Petersburg, die neue Hauptstadt des Zarenreiches.
Die ursprüngliche Bevölkerung Ingermanlands sind die im 10. Jahrhundert aus Karelien eingewanderten Ischoren und die Woten, zwei finno-ugrische Völker mit eigenen Sprachen. Im 17. Jahrhundert siedelten sich zudem Schweden und Finnen an. Die ingermanländischen Finnen, die, anders als die orthodoxen Ischoren und Woten, protestantisch sind, stellen eine eigenständige ethnische Gruppe dar und bildeten in vielen Gebieten Ingermanlands bis in die 1930er-Jahre die Mehrheit der Bevölkerung. 1917 waren es etwa 140.000. Auch die Wepsen, ein ebenfalls finno-ugrisches Volk, haben einen Teil ihres Siedlungsgebietes in Ingermanland. Schon bald nach der Gründung Sankt Petersburgs hatten die Russen in diesem sumpfigen und vorher dünn besiedelten Gebiet allerdings die überwiegende Bevölkerungsmehrheit.
Heute stehen Kultur und Sprache der Woten und Ischoren vor dem Aussterben.
Die Stadtgründung von Sankt Petersburg ist Gegenstand eines um Peter den Großen gewobenen politischen Mythos. Danach soll der weitsichtige Zar bereits bei deren erstem Anblick eine unbewohnte und öde Sumpflandschaft an der Newa-Mündung zum Standort seiner zukünftigen Hauptstadt, eines „Fensters nach Europa“ für Russland, ausgewählt haben. Die wortmächtigste und am häufigsten zitierte Ausformulierung dieses Mythos von der eine „Hauptstadt aus dem Nichts“ erschaffenden Willenskraft Peters des Großen findet sich in dem Gedicht Der eherne Reiter (1834) von Alexander Puschkin.
Tatsächlich ignoriert diese populäre Erzählung von den Ursprüngen Sankt Petersburgs jedoch, dass der Bereich der unteren Newa schon lange zuvor Teil einer Kulturlandschaft war, des Ingermanlandes. Dort lebten seit dem 10. Jahrhundert Vertreter verschiedener finno-ugrischer Völker größtenteils von der Landwirtschaft. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts stritten Schweden und Nowgorod unentschieden um eine Kontrolle über das Gebiet. Eine schwedische Siedlung an diesem Ort wurde angeblich im Jahr 1301 zerstört. Danach einigte man sich darauf, die Region als Pufferzone zwischen den Einflusssphären zu betrachten, in der keine Festungen errichtet werden durften.
Ingermanland ist also eines der Salatpflänzchen, die vom Topinambour überwuchert wurden.
Dass mich diese Thematik so tief berührt, liegt übrigens im Grunde an Lino. Durch Lino kriege ich hautnah mit, was die belgischen ÖSHZ sich für Arbeit machen, um nach dem christlichen Ideal „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu leben. Und diese Arbeit wird getan von Leuten, die offiziell gar keine Christen sind. Pierre und Arianne, die über gläubige Menschen meinen, dass die „nicht genug nachgedacht hätten“, handeln christlicher als die Popen in Moskau.
Kleriker (d.h. Menschen, die sich beruflich um Glaube und Seelsorge kümmern) sind immer besonders bedroht von der Versuchung zu meinen, sie wüssten besser als die ihnen anvertrauten Schäfchen über Gott und seinen Plan Bescheid. Jesus verurteilt diese Haltung klar. Die christliche Religion ist die klerikerkritischste Religion, die ich kenne. Das Bild vom Guten Hirten, der die neunundneunzig gesunden Schafe unbewacht lässt, um sich um das schwächste Hundertste zu kümmern, ist eine definitive Absage an Elitarismus und Monokultur. Aber dieses Wissen geht selbst in den großen kirchlichen Organisationen naturgemäß immer wieder verloren, weil Kleriker auch nur Menschen sind. Papst Franziskus scheut sich nicht, seine Untertanen vor „pharisäerischem Denken“ zu warnen. Bravo.