Belgienreise wieder abgesagt

Hallo Freunde,

Änderung in unseren Reiseplänen: den Jahreswechsel werden wir nun doch nicht in Belgien verbringen; wir haben uns für Vorsicht statt Abenteuer entschieden, am Samstag habe ich unsere Flugreise wieder storniert. Theoretisch kriegen wir sogar unser Geld zurück, weil die Fluggesellschaft den Rückflug verlegt hatte und uns dadurch Rückerstattung anbieten musste. Wobei ich gespannt bin, ob die Wirklichkeit der Theorie folgen wird.

Estland gehört nach Finnland zu den beiden Corona-verschontesten Ländern Europas (Quelle). Landesweit liegen 55 Fälle im Krankenhaus, 4 davon brauchen künstliche Beatmung (Quelle). Und getestet wird fleißig, täglich werden hunderte Personen für zwei Wochen zu Aussätzigen. Auch ein Junge unserer Nachbarsfamilie war vorige Woche positiv und hatte einen Tag lang 38° Fieber, aber gestern spielte er schon wieder mit den anderen Jungen im Garten. Eine Schule in Tallinn arbeitet vorsichtshalber zwei Wochen lang auf Distanz, nachdem ein Schüler positiv war. Morgen fällt ein Taizégebet aus, weil der Hauptsopran positiv ist. Gestern habe ich zum ersten Mal einem Gottesdienst mit Maske beigewohnt. In den Bussen soll man jetzt bitteschön Maske tragen, was auch einige Fahrgäste tatsächlich tun. Also das öffentliche Leben geht hier relativ uneingeschränkt weiter.

Schlimmer als der COVID wütet in Estland momentan die rechtsradikale Politik. Bei den nationalen Wahlen Ende 2019 hatte es einen Rechtsruck gegeben, als die Konservative Volkspartei (EKRE) überraschend viele Stimmen erhielt. Widerwillig hat sich dann eine Koalition gebildet, und seitdem wird die estnische Öffentlichkeit mit Homophobie und Ausländerhass aus Ministermündern besprüht. Aber gestern hat Innenminister Mart Helme (EKRE) wahrscheinlich die Grenze überschritten, als er den neuen Präsidenten der USA als „korrupten Charakter“ und die Wahlen als „gefälscht“ bezeichnete (Quelle). Das wird ihn hoffentlich vom Ministerstuhl reißen. Unsere Präsidentin hatte ihn schon vor einigen Wochen getadelt, nachdem er in einem Interview mit der Deutschen Welle Hass gegen Homosexuelle geschürt hatte (siehe z.B. hier und hier), aber jetzt geht es nicht mehr nur um Menschenrechte sondern um militärische Sicherheit. Für heute hat sie eine Krisensitzung einberufen.

Ich fand es erschreckend, dass fast die Hälfte der Amerikaner den Trump tatsächlich nochmal hätten haben wollten. Woran liegt das? Darüber machen sich ja glücklicherweise genügend kompetente Leute Gedanken, und hoffentlich lernt die Menschheit daraus. Ich sag trotzdem hier mal meine naive Meinung dazu. Ich habe immerhin einige Freunde, die den Trump gewählt hätten und vor einem Jahr EKRE gewählt haben. Und ich bleibe übrigens dabei: auch die sind meine Freunde. Die Wirklichkeit ist komplexer als ein Präsident oder eine Partei. Unsere Überzeugungen sind immer das Fazit unserer persönlichen Lebensgeschichten, und die sind nun mal für jeden Menschen anders.

Aber woran es liegt. Also wenn ihr mich fragt: Trump-Wähler spüren einerseits die Gefahr hinter der unkontrollierten Marktwirtschaft (da haben sie Recht) und denken andererseits nicht global solidarisch (das ist ihr Fehler). Die Gefahr der unkontrollierten Marktwirtschaft spürt man in Europa weniger als in Amerika, weil bei uns noch fast alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulbildung haben. In Amerika ist der Wettkampf viel härter und die Reichen werden immer reicher und mächtiger. Wenn Politik sich nicht mehr um die Armen kümmert, führt das früher oder später zum Aufstand. Trump und EKRE gaukeln Lösungen für „alle“ (im eigenen Land) vor, deren Utopie nur Menschen erkennen, die global solidarisch denken. Dazu muss man entweder viel studiert haben oder an Jesus glauben. Letzteres kann aber auch das Gegenteil bewirken, wenn man statt Jesus die Bibel verherrlicht.

Das war jetzt natürlich nur meine Überzeugung. Vor einigen Wochen wies mich ein Freund auf den Dunning-Kruger-Effekt hin, der erklärt, wie die Selbstsicherheit eines Menschen sich mit steigendem Fachwissen verhält. Ich hatte noch nie davon gehört und empfehle dieses Video, das ihn anschaulich (für Dummies) erklärt. Das Video ist allerdings selber ein Beispiel für den Effekt, den es erklärt. Es vergisst zu erwähnen, dass Dunning und Kruger nur Nordamerikaner untersucht haben und im Jahr 2000 mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet wurden (Quelle). Der Glaube an diesen Effekt hat als Nebenwirkung, dass man sich ruhig hält, weil es ja immer einen Kompetenteren als mich gibt. Ein Opium des Wirtschaftsliberalismus.

Aber ansonsten geht es uns gut. Gestern war in Estland Vatertag. Da sind wir zum Grab von Lys Vater gegangen, wo Ly die spontane Idee hatte, ein paar Erinnerungen aus seinem Leben zu erzählen. Und ich habe ihnen von meinem Vater erzählt. Danach sind wir essen gegangen (ja, die Restaurants sind hier alle noch offen) und die Kinder haben mir erzählt, was sie an ihrem Vater gut finden. Hat mich gefreut.

Liebe Grüße!

Luc (Ly unterschreibt meine politischen Äußerungen nur selten)

Verschickt am Montag, 9. November 2020.