Sommerbericht

Freitag, 21. August 2020

Hallo Freunde,

so. Jetzt nehme ich mir aber noch mal Zeit für einen Rundbrief an euch! Das fällt mir in letzter Zeit immer schwerer, weil ich dann ja immer die Frage „Wie geht es?“ beantworten will. Also um es kurz zu machen: Danke, gut. Wir haben für den Jahreswechsel Tickets gebucht und kommen vom 28. Dezember bis 5. Januar nach Eupen.

Aber wenn ich ehrlich und gründlich erzählen will, wie es uns geht, dann weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Nun gut, ich lege mal einfach los und dann sehen wir, bis wo ich komme.

Ich sitze ganz allein in unserer Wohnung in Tallinn. Gestern Morgen habe ich Ly und Mari von Vigala zum Bahnhof nach Rapla gebracht und bin dann nach hier gekommen. Die beiden fuhren von Rapla aus mit dem Zug nach Viljandi. Heute Nachmittag gehe ich Iiris abholen vom Sportlager in Kloogaranna und fahre dann mit ihr nach Vigala zurück, wo Ly schon seit gestern Abend auf uns wartet (sie war noch am gleichen Tag mit dem Bus von Viljandi wieder zurück nach Vigala gefahren). Für die, die Estland nicht so kennen, habe ich die Ortsnamen mal auf einer Karte markiert.

So ähnlich geht das bei uns schon den ganzen Sommer lang, ständig sind wir unabhängig voneinander auf Schipp, und gelegentlich auch mal einen Tag oder zwei alle zusammen.

Als wir gestern Morgen zum Bahnhof losfuhren, fuhr zunächst Mari, denn sie fährt seit vorigem Jahr auf Lizenz, um demnächst vielleicht mal ihren Führerschein zu machen. Aber nach einigen Kilometern fiel uns auf, dass wir uns beeilen müssen, weil wir mal wieder in letzter Minute abgefahren waren. Also tauschten wir und ich fuhr mit bis zu 130 Km/h durch die Landschaft. „Was macht ihr, falls wir den Zug verpassen?“ fragte ich vorsichtshalber schon mal. Sie hatten keine Antwort darauf und brauchten zum Glück auch keine. Aber ich durfte während der Fahrt nie lange mit Mari erzählen, denn wenn ich erzähle, fahre ich instinktiv langsamer, so dass Ly mich nach einiger Zeit mit diplomatischen Bemerkungen wie „Kann man hier nicht schneller fahren?“ unterbrach.

Die beiden fuhren von Rapla aus mit dem Zug nach Viljandi. Ly zum Kaljurahnu-Hof für ihr Praktikum und Mari zu Madara, einer Freundin, die sie auf der Fahrt nach Taizé kennengelernt hatte.

Ly hat seit September viel Zeit investiert in ihren Keramikkurs. Und das war erst das erste von zwei Jahren. In den letzten Monaten hat sie an verschiedenen Stellen Praktikum gemacht. Holzbrand ist dieses Jahr eines ihrer Hauptthemen. Ich hatte dieses Wort noch nie gehört. Hier ein paar Fotos von Sachen, die mit Holzbrand hergestellt wurden:

https://www.ecosia.org/images?q=keramik+holzbrand

Holzbrand wird in einem Anagama gemacht. Das ist ein „aus dem ostasiatischen Altertum stammender, liegender Einkammer-Ofen, der für das Brennen von Töpferei-Produkten verwendet wird“. Da drin werden die rohen Tonkunstwerke gestapelt (dieser Vorgang dauert an sich schon 8 Stunden), dann wird das Ganze während ca 36 Stunden auf bis zu 1300°C geheizt, wobei bis zu 10 m3 Holz verbrannt werden.

In Estland gibt es mindestens drei davon. Einer im besagten Kaljurahnu-Hof bei Viljandi. Der wurde 2017 gebaut ist genauer gesagt ein Noborigama.

Ja, ihr habt richtig gelesen: Mari war diesen Sommer in Taizé, vom 2. bis 9. August. Mit einer Gruppe von 10 Jugendlichen und 8 Erwachsenen. Sie fuhren in zwei Minibussen und einem Auto durch Lettland, Litauen, Polen und Deutschland. In Deutschland erfuhren sie, dass Frankreich inzwischen in die Rote Liste gekommen war. Sie fuhren trotzdem weiter, obschon das bedeutete, dass sie nach ihrer Rückkehr noch zwei Wochen in Quarantäne bleiben müssten. In Taizé hatte Mari eine super Austauschgruppe mit hauptsächlich Deutschen und einem Holländer.

Nach der Rückkehr aus Taizé blieben noch zwei Mädchen der Reisegruppe mit Mari bei uns in Vigala für die Quarantäne. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit den dreien zweimal pro Tag ein Familiengebet im Taizé-Stil zu machen. Das geht bei uns normalerweise nicht, weil Ly und Iiris keinen Spaß daran haben. Ist ja auch in der Tat nicht jedermanns Geschmack.

Aber ich bin trotz meines vorgerückten Alters weiterhin begeistert von Taizé. Die Musik hat mich damals hingelockt, aber die Art der Brüder, die Bibel zu deuten, hat mich dableiben lassen. Im Mai habe ich sogar eine „Vereinigung der Taizé-Freunde Estland“ gegründet und eine Webseite eingerichtet. Nicht weil ich so begabt in Öffentlichkeitsarbeit wäre, sondern weil es einfach sein musste. Es gibt zwar mindestens ein Dutzend Gemeinden in Estland, die regelmäßige Gebete mit Liedern aus Taizé organisieren, aber wie die Esten so sind: sie tun viel, aber reden nicht gern darüber, sondern arbeiten lieber jeder für sich und insgeheim.

Wobei diese vorsichtige Einstellung ganz verständliche Gründe hat, immerhin ist die Okkupation erst seit dem 20. August 1991 vorbei. Deshalb war übrigens gestern Feiertag hier, der sogenannte Wiederverselbstständigungstag.

Iiris ist zur Zeit ein richtiger Backfisch. Sie weiß noch nicht so recht, was sie will, aber eines ist klar: es ist nicht das, was irgendwelche Erwachsenen gerade von ihr erwarten. Ly und ich sind uns einig, dass sie zu viel vor dem Bildschirm hängt, aber es gelingt uns nur selten, sie von dort weg zu locken. Ich finde oft keinen Draht zu ihr.

Glücklicherweise findet sie Draht zu anderen. Sie hat mehrere „beste Freundinnen“. Manchmal kommt die eine oder andere sie für ein paar Tage in Vigala besuchen. Einmal hatte ich das Privileg, als Taxifahrer dienen zu dürfen mit Iiris und ihrer Freundin auf dem Rücksitz. Die beiden hatten sich schon mehrere Wochen nicht gesehen. Ich erinnere mich nicht mehr an Details, aber es war herzwärmend. Nach der Fahrt schrieb ich ihnen folgendes Abendgebet und durfte es ihnen sogar vorlesen (ich hatte Glück: die beiden hatten sich gerade Tee gemacht und saßen am Küchentisch):

Die beste Freundin ist eine, mir der du ganz ohne Maske sein kannst. Bist einfach du selbst. Du lachst über ihre Witze und sie über deine. Dir gefällt das, was ihr gefällt. Wenn sie traurig ist, bist du traurig. Du fühlst das, was sie fühlt. Mit ihr gehst du egal wohin, Hauptsache gemeinsam. Und selbst wenn ihr euch streitet, dann weißt du dass ihr euch bald wieder versöhnen werdet. Herr Gott, hätte doch jeder Mensch ein paar gute Freunde! Amen.

Iiris ist ein Fan von Piper Rockelle, die heute 13 geworden ist und schon 5,7 Millionen Zuschauer auf YouTube hat. Wenn Iiris einen Film in Englisch schaut, dann versteht sie fast immer, was die Leute da reden. Ich dagegen verstehe es fast nie. Wenn ein Amerikaner mir was sagen will, dann muss er deutlich und nicht zu schnell sprechen, damit ich ihn verstehe. Einmal spielte Iiris mir während einer Autofahrt ein Lied von Piper Rockelle vor und schaltete nach jedem Satz auf Pause, um mir den Satz in deutlichem Englisch zu wiederholen. Ansonsten hätte ich es nicht verstanden.

Das Lied handelte davon, wie sie per „text“ (Chat-Nachricht) zu einer spontanen Party eingeladen wurden, sich dann umzogen und es genossen, durch die Stadt zur Party zu gehen. Ach, du unbeschwerte Jugend!

Und Iiris kommt heute also vom Sportlager zurück. Seit sie in Tallinn zur Musikmittelschule geht, hat sie auch zweimal pro Woche Leichtathletik-Training. Zum Glück ist das kein leistungsorientierter Club, sondern das Ziel ist, Freude dran zu haben. Am Mittwoch schrieb ich ihre eine Nachricht „Hallo Iiris, alles klar? Wie geht es so? Ruf doch mal an…“ Antwort: „Wir haben unsere Telefone nur für sehr wenig Zeit, ich hatte noch keine Zeit anzurufen.“

Als ich sie am Sonntag ins Lager brachte, war uns während der Fahrt seit Langem noch mal wieder ein Gespräch gelungen. Ich glaube, ich hatte es begonnen mit der Frage „Was müssten die Menschen in Zukunft besser machen?“. Sie schlug vor: Weniger Autos, mehr mit dem Bus oder dem Pferd. Den Touristen nicht nur Tallinn zeigen, sondern aufs Land raus. Und am Ende machten wir schon recht konkrete Pläne, wie wir ihre Freunden Kyla in Kenia (ebenfalls Fan von Piper Rockelle) im kommenden Sommer besuchen könnten. Ob das was wird, sei dahingestellt, aber wenn deine zwölfjährige Tochter mit dir ihre Träume teilt, das ist einer jener glücklichen Momente, die man nicht kaufen kann. Wir können sie nur dankbar als Geschenk wahrnehmen.

Im Juli gab es eine Überraschung. Ich habe ja im letzten Jahr kaum Fotos gemacht. Meine kleine Canon hatte nämlich einen Kratzer im Objektiv, und auch der Sensor wurde immer schlechter. Wir waren seit Monaten am überlegen, eine „gute“ Kamera zu kaufen. Dann erfuhr ich, dass so ein IPhone inzwischen –angeblich– genau so gute Fotos wie eine Spiegelreflex macht. Also eher ein neues Handy mit guter Kamera kaufen. Aber ich zögerte. Der viele Elektronik-Schrott geht mir gegen den Strich, und heutzutage fließen so viele Fotos durchs Internet, dass man es richtig satt kriegen kann. Und da kam von einer Freundin aus Deutschland folgende Nachricht: „Lieber Luc. Ich habe nun ja eine neue gebrauchte Kamera und wüsste meine Canon 350d gern in lieben Händen. Sie hat am Objektiv einen Riss im Plastik, sonst ist die Gute fit. Brauchst du noch eine? Sie ist ziemlich groß. Wenn du sie magst, würde ich sie dir gern schenken und schicken.“

Zwei Wochen später kam das Geschenk an. Seitdem habe ich wieder begonnen, Fotos zu machen. Auch Mari und Iiris sind begeistert. Die folgenden Fotos sind also mit einer 15 Jahre alten Canon 350d gemacht.

Wir sind’n Paar!

Glückliche Backfische leben vollkommen wartungsfrei in ihrer eigenen Blase.

Bin stolz auf Ly, weil sie sich durch ganz Estland mit dem Bus oder Fahrrad bewegt.

Auf dem diesjährigen Folklorelager hat Mari viel Freude gehabt und ein bisschen Geld verdient als Musiklehrerin.

Der Anagama vom Tohisoo-Gut in Kohila wird mal wieder gefüllt. Ly trägt sich in den Heizerplan ein.

Das kleine Dorf Käsmu im Lahemaa-Naturpark ist berühmt für seine sagenhaft schöne Lage und das jährliche Musikfestval „Viru Folk“, zu dem dieses Jahr nur 2000 Besucher zugelassen waren. Wir boten in der Kirche von Käsmu Gebete mit Liedern aus Taizé an, zählten dadurch als „Darsteller“ und bekamen jeder einen Festivalpass. Einige der Besucher trauten sich sogar über die Kirchenschwelle.

Gestern abend hörte ich eine Predigt von William Goh, dem Erzbischof von Singapur. Der sagte: Es gibt Leute, denen „geht es gut“, aber die sind nicht glücklich. Sie haben Arbeit, Familie, Freunde, sind mehr oder weniger gesund, und haben doch irgendwie den Eindruck, das Leben zu verpassen. Manche opfern ihr ganzes Leben für andere und fühlen sich trotzem leer oder ausgelaugt. Manche sagen sich dann „Hauptsache, dass ich Gott einen positiven Bericht vorlegen kann, wenn ich in den Himmel komme.“ Aber der Himmel ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gemeinschaft. Eine tiefe Gemeinschaft mit Gott, und mit unseren Geschwistern. Himmel bedeutet einfach, dass du verliebt bist. Gründlich verliebt in Gott, in jeden Menschen, und auch in dich selbst. Und das einzige, was der Mensch wirklich braucht, ist Gemeinschaft. Leben ist mehr, als sich für andere hingeben. Leben ist, mit den anderen zu feiern und dankbar Gemeinschaft genießen.

Ja, ehrlich, so geht es uns. Manchmal kann ich selbst kaum glauben, wie gut das ist. Und vieles Wichtige habe ich noch gar nicht erzählt. Aber jetzt muss ich weiterleben! Liebe Grüße aus Tallinn von

Luc