Donnerstag, 19. März 2020

Hallo Freunde,

falls ihr wissen wolltet, wie es uns geht: danke, gut.

Bisher haben wir im Familienkreis noch keine Symptome der COVID-19 beobachtet und vertrauen in medizinischen Fragen vor allem auf unsere private Haushexe Ly. Iiris hat von uns allen die meisten Ängste, sie ist ja auch noch jung und leicht beeinflussbar durch die sensationellen Medienberichte. Die Haushexe muss mich gelegentlich ausschimpfen, wenn ich kleinen Mädchen mit allzu makabren Witzen auch noch Öl ins Feuer schütte.

Mari und Iiris arbeiten seit Montag im Home-Office, jetzt sind wir also zu dritt zu Hause. Ich bin begeistert, wie nonchalant und einfach in Estland der Übergang ins Corona-Zeitalter über die Bühne geht, zumindest was die Schulen betrifft. Sowohl Schüler als auch Lehrer nutzen Software wie Moodle oder Google Classroom, als hätten sie das schon immer getan. Ich als Programmierer hätte da schon meine Probleme…

Ly ist zur Zeit oft in Vigala, seit Montag hat sie die Keramik-Abteilung der Berufsschule quasi für sich alleine und nutzt die Gelegenheit, um sich in den Techniken des Keramikerhandwerks zu trainieren. Der Keramik-Kurs in Vana-Vigala ist ein mutiges Projekt, das diese Schule vorigen September gestartet hat. Weil diese Schule geografisch so weit weg vom Schlag liegt, muss sie sich ständig neue Ideen einfallen lassen. Ly war bei diesem Kurs eine der ersten Teilnehmer.

Bin mal gespannt, ob Ly eines Tages auch mal höhere (und bezahlte) Aufgaben in der Berufsschule übernimmt. Das könnte ihr passen, finde zumindest ich. Und es würde auch in unsere Pläne passen, denn wenn Iiris alt genug ist, um alleine in der Stadt zu wohnen, wollen wir ja aus dem Exil hier in Tallinn wieder zurück in die Heimat ziehen.

Unser Exil in Tallinn fängt an, gemütlich zu werden, weil wir bald umziehen werden von unserer bisherigen Dreizimmerwohnung in Mustamäe in unsere Vierzimmerwohnung in Nõmme. Der Anstreicher hat angekündigt, dass er heute Abend fertig wird. Kann sein, dass wir schon am Wochenende erstmals in vier statt drei Zimmern schlafen. Gestern habe ich mehrere Stunden damit verbraucht, das 180 cm breite Ehebett aus der zukünftigen Wohnung gegen unser gewohntes 160 cm schmales Bett auszutauschen.

Und das alles, obwohl Lino eigentlich drei Lucs nötig hätte! Tonis und Hamza sind ja tüchtig, aber ich kann ihnen nur „technische“ Aufgaben delegieren. Kundenprojekte und Vertrieb bleiben auf meiner Schulter. Es gibt Momente, wo ich verzeifle und alles hinschmeißen möchte. Interessanterweise sind solche Momente recht kurz und kommen nur, wenn ich übermüdet bin. Sobald ich dann ein paar Stunden geschlafen habe, sieht die Welt schon wieder anders aus. Ihr könnt mich ruhig einen verrückten Idealisten nennen, weil ich an meine Lino-Vision glaube. Wobei ich dann –falls ihr es euch interessiert– präzisiere: meine persönliche Antwort auf die Frage „Wozu lebe ich?“ lautet weder „Für meinen beruflichen Erfolg“ noch „Für meine Familie“ noch „Für meine Freunde“, sondern „Um Gott zu loben“. Rückblickend würde ich sagen, dass ich das seit ungefähr meinem 18. Lebensjahr denke, nachdem ich ein Jahr lang um einen Klassenkameraden getrauert hatte. Und Freunde, Familie und Freie Software gehören für mich nur selbstverständlich mit dazu.

So wünsche ich euch in dieser Zeit der durch Regierungen verordneten Alarmbereitschaft (ein Phänomen, das wir in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg fast vergessen hatten) viel Vertrauen in die Zukunft sowie offene Augen und Hilfsbereitschaft für die, die eure Hilfe brauchen. Und vergesst nicht den Humor. À propos, kennt ihr den schon: Früher hüstelte man im Kaufhaus, um einen Furz akustisch zu vertuschen, heute ist es umgekehrt.

Liebe Grüße von Luc mit Mari, Iiris und Ly