20140228 (Friday, 28 February 2014)

„Glaubenssache“ oder „Intuition“?

Gestern beim Yogatraining war ich ohne Hilfe der Hände aus dem Schneidersitz aufgestanden, dabei hatte mein Knie geknackt, und seitdem tut es ein bisschen weh. Als ich das Ly erzählte, meinte sie „Traumeel drauf und einen Verband, um es warm zu halten“. Traumeel ist eine Salbe aus Paraffin und einer Mischung aus diversen homöopathischen „Zutaten“. „Verband ist gut, aber statt Traumeel nehme ich lieber Diclofenacum“ sagte ich. Ly: „Diclofenacum hilft doch nur, wenn es in den Muskeln ist, aber du hast doch eher was an den Sehnen oder den Knochen“. Luc „Was weiß ich, was da genau weh tut. Momentan lohnt es sich nicht, eine Röntgenuntersuchung zu machen, momentan ist das Glaubenssache.“

Da war Ly beleidigt: „Du kannst doch nicht einfach alles Glaubenssache nennen, was nicht mit mathematischen Zahlen nachweisbar ist. Wenn ein Arzt dir ohne Röntgenuntersuchung eine Diagnose macht, dann ist das keine Glaubenssache, sondern intuitive Diagnose!“

„Huch!“ sagte ich.

Ja, wenn es um die Grenze zwischen Glaube und Wissen geht, sind wir Menschen sehr empfindlich. Was wir zu wissen glauben, da darf niemand dran rütteln.

Naja, um genauer zu sein, war Lys Reaktion so heftig, weil das nun mal eines unserer Lieblings-Streitthemen ist. Seit ich Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin…? gelesen habe, kann ich sie sogar erstmals auf neue Art verstehen. Unsere wissenschaftsgläubige westliche Gesellschaft basiert unter anderem auf der Utopie, dass alles Wissen quantifizierbar und digital speicherbar ist.

Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin…?

Ein interessantes und lesenswertes Buch. Der Autor geht der Frage nach, „wie das Internet unser Denken verändert“. „Im Internetzeitalter lesen wir oberflächlicher, lernen wir schlechter, erinnern wir uns schwächer denn je.“

Unter anderem erzählt er (Seiten 332-334) anschaulich den Satz „Je klüger die Software, desto dümmer der Nutzer“ (basierend auf einer Studie von Christof van Nimwegen: The paradox of the guided user: assistance can be counter-effective). Hier ein Auszug:

Van Nimwegen ließ zwei Gruppen Freiwilliger an einem Computer eine vertrackte Denkaufgabe lösen. Es ging darum, bunte Kugeln von einer Schachtel in eine andere zu legen. […] Eine Gruppe verwendete eine Software, die darauf ausgelegt war, möglichst hilfreich zu sein. So wurden zur Lösung der Aufgabe allerlei Hilfestellungen gegeben, etwa visuelle Marker angezeigt, die auf erlaubte Spielzüge hinwiesen. Die andere Gruppe verwendete ein komplett abgespecktes Programm, das keinerlei Hinweise oder sonstige Anleitungen bot. [ab hier fasse ich zusammen] Bei den ersten Runden waren die Leute mit dem hilfreichen Programm schneller, aber bald holten die mit dem primitiven Programm auf und überholten ihre Gegner schließlich definitiv. Weil sie gelernt hatten, im Voraus zu planen und Strategien zu entwerfen, während die anderen dazu neigten, sich auf die simple Vorgehensweise von Versuch und Irrtum zu verlassen. Tatsächlich habe man die Teilnehmer mit der hilfreichen Software beim Lösen der Aufgabe oft „nur ziellos herumklicken“ sehen.

Mein Fazit: Die Hersteller proprietärer Software verwenden einen Großteil ihrer Programmierer-Ressourcen daran, ihre Software narrensicher und bequem zu bedienen zu machen. Das sind Qualitäten, die bei freier Software nicht so wichtig genommen werden, weil freie Software kein Interesse hat, ihre Benutzer dumm zu halten.